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Die Chemie- und Pharmabranche steckt in der Krise.

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Chemie- und Pharmabranche in Berlin: Unser Wohlstand steht auf dem Spiel

Hohe Energiepreise und Bürokratie gefährden die Branche und damit zahlreiche Arbeitsplätze und die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln in der Region. Das betrifft uns alle, warnt unsere Gastautorin.

Ein Gastbeitrag von Nora Schmidt-Kesseler

Stand:

Berlin ist ein bedeutender Standort für die Chemie- und Pharmabranche. In der Hauptstadtregion sind rund 100 Unternehmen ansässig, die etwa 20.000 Arbeitsplätze bieten. Jeder Arbeitsplatz der Branche sichert zusätzlich zwei weitere in angrenzenden Sektoren. Die Unternehmen stehen für Innovationskraft, hohe Wertschöpfung, Produktivität und attraktive Bezahlung.

Doch was vielen nicht bewusst ist: Wenn das Fundament der Chemie- und Pharmaindustrie ins Wanken gerät, hat das weitreichende Folgen für uns alle. Wer sich an Weihnachten über seine Geschenke freut, sollte sich die Frage stellen, welche es ohne Chemie noch gäbe. So gut wie keines!

Ohne Chemie kaum ein Weihnachtsgeschenk unterm Baum

Chemie bildet die Grundlage unseres modernen Lebens und ermöglicht Technologien sowie Produkte, die wir täglich nutzen, um unseren Alltag zu gestalten. Ohne chemische Prozesse gäbe es keine Materialien wie Stahl, Aluminium oder Silizium, die für Autos, Schiffe, Brücken, Handys und Häuser unverzichtbar sind. Die moderne Lebensmittelproduktion würde ohne synthetische Düngemittel nicht mehr funktionieren, Arzneimittel wären nicht verfügbar und die Energiewende nicht realisierbar.

Wir befinden uns derzeit in der schwersten Wirtschaftskrise seit 75 Jahren, und auch der Industriestandort Berlin steht unter Druck.

Nora Schmidt-Kesseler ist Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände und führt in Personalunion den Verband der chemischen Industrie Nordost und den Arbeitgeberverband Nordostchemie. 

Und das Fundament wackelt: Wir befinden uns derzeit in der schwersten Wirtschaftskrise seit 75 Jahren, und auch der Industriestandort Berlin steht unter Druck. Die Produktion lag 2024 rund 16 Prozent niedriger als 2018, die Pharmaproduktion hatte im laufenden Jahr mit Lieferkettenproblemen, Kapazitätsengpässen und sinkender Nachfrage aus Europa und den USA zu kämpfen. Was passiert, wenn unsere Schlüsselindustrien diesem Druck nicht standhalten? Wenn Produktionen ins Ausland abwandern müssen, weil unsere Industrie ihre Wettbewerbsfähigkeit verliert?

Durch hohe Energiepreise und ein Regulierungsdickicht hat der Standort Deutschland und Berlin massive strukturelle Wettbewerbsnachteile. Die Energiekosten – vor allem für Erdgas und Strom – sind im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig. Hinzu kommen unkalkulierbare Faktoren wie die Dunkelflaute, für mich jetzt schon der „Unzustand“ des Jahres. Eine Phase, in der weder Wind noch Sonne ausreichend erneuerbare Energie liefert, hat in den vergangenen Wochen gezeigt, wie anfällig das deutsche Energiesystem geworden ist.

Wenn Wind und Sonne nicht ausreichend erneuerbare Energien liefern, kann es problematisch werden.

© Imago/Jochen Tack

Am 12. Dezember stieg der Börsenstrompreis zeitweise von 100 Euro auf über 900 Euro pro Megawattstunde. Unsere energieintensive Branche traf das mit voller Wucht und die Unternehmen mussten sich entscheiden: Produzieren sie mit Verlust oder stoppen sie die Produktion? Eine sichere und bezahlbare Energieversorgung darf nicht allein von der Wetterlage abhängig sein. Hinzu kommt die Regulierungsdichte, die kaum noch handhabbar ist, und schafft Zielkonflikte. An der überbordenden und sehr kleinteiligen Regulierung ist nicht allein die Bundesregierung schuld. Das Epizentrum der Bürokratie liegt in Brüssel. In Summe reguliert die EU-Kommission unsere Industrie und damit ganz Europa in den Stillstand.

Wohlstand und Lebensqualität in Gefahr?

Auf das eine oder andere Kosmetikprodukt möchte man nicht, könnte notfalls aber darauf verzichten, ohne dass es zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen kommt. Es geht aber um mehr. Auch wenn die Medienberichterstattung über Medikamentenengpässe in diesem Jahr nicht mehr so präsent ist wie im Vorjahr, bleibt dieses Problem gravierend.

Rabattvertragsausschreibungen bei Krankenkassen, die lediglich auf den günstigsten Preis abzielen, verstärken die Problematik zusätzlich.

Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände

Derzeit sind fast 500 Arzneimittel entweder nicht verfügbar oder nur eingeschränkt erhältlich. Die betroffenen Medikamente reichen von alltäglichen Präparaten wie Antibiotika und Schmerzmitteln über Blutdrucksenker bis hin zu Krebsmedikamenten. Eine Vielzahl an lebenswichtigen Arzneimitteln wird von mittelständischen Unternehmen produziert. Infolge der völlig unzureichenden Rahmenbedingungen einerseits und der in Deutschland für rezeptpflichtige Arzneimittel herrschenden Begrenzung der Verkaufspreise andererseits wird für sie eine wettbewerbsfähige Produktion und Bereitstellung zunehmend unmöglich.

Derzeit sind rund 500 Arzneimittel nicht oder nur eingeschränkt verfügbar.

© imago images/MIS/via www.imago-images.de

Rabattvertragsausschreibungen bei Krankenkassen, die lediglich auf den günstigsten Preis abzielen, verstärken die Problematik zusätzlich. Bis vor Kurzem wurde Tamoxifen, ein lebenswichtiges Brustkrebsmedikament, für den deutschen Markt noch in Ostdeutschland produziert. Die Produktion musste jetzt als Folge der nicht mehr gegebenen Wirtschaftlichkeit in Deutschland eingestellt werden. Die Abhängigkeit von wenigen anderen Herstellern steigt dadurch drastisch. Versorgungsengpässe, wie sie bereits 2022 der Fall waren, können mittlerweile nicht mehr aufgefangen werden.

Um die Chemie- und Pharmabranche in Deutschland und Berlin zu stabilisieren und zu halten, sind schnelle Maßnahmen notwendig. Besonders wichtig ist eine sofortige Entlastung bei den Strom- und Gaskosten. Zeit ist ein entscheidender Faktor: Standort- und Investitionsentscheidungen in unserer Branche haben aufgrund der komplexen Anlagen und langfristigen Planungen einen Zeithorizont von Jahrzehnten. Einmal ins Ausland verlagerte Produktionsstätten sind für immer verloren. Mit ihnen würden wir nicht nur Zehntausende hochwertige Arbeitsplätze und Milliarden an Steuereinnahmen verlieren, sondern auch die Versorgungssicherheit unseres Gesundheitssystems aufs Spiel setzen. Wir müssen alles daransetzen, dieses Szenario zu verhindern – gemeinsam und entschlossen.

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