Betrugsskandal: Das Geschäft mit dem Leid
Die Affäre um die Pflegedienste in Berlin weitet sich aus – Fachkräfte sprechen von hochkriminellen Machenschaften.
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Berlin - Als eine Art Hilferuf wollten sie es verstanden wissen. Zwei Tage vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus haben der Neuköllner Sozialstadtrat Michael Büge (CDU) und sein Kollege aus Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), am Freitag nochmals auf die mutmaßlichen Betrügereien und Missstände bei privaten Berliner Pflegediensten hingewiesen. „Wir haben es mit zahlreichen vorsätzlichen Falschabrechnungen zu tun, aber auch mit Dingen, die darüber hinausgehen“, sagte Büge. Dinge, mit denen sich die Polizei, das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft beschäftigen müssten.
Zwar hatte Neuköllns Stadtrat bereits vergangene Woche bekannt gegeben, dass er zwei ambulante Pflegeanbieter hat anzeigen lassen und weitere untersuchen lassen werde, doch nun offenbare sich eine völlig neue Dimensionen der Schäden, die ihn „schockiert“. Erstmals wurden die Bezirksstadträte am Freitag von Fachkräften unterstützt, die öffentlich über die Zustände bei ihren (ehemaligen) Unternehmen berichteten. Die Vorwürfe reichten dabei von gefälschten Unterlagen, unzureichenden oder falsch klassifizierten Leistungen und hingenommener Verwahrlosung der Patienten über Abzocke, kriminelle Klüngelwirtschaft bis hin zu Mobbing der Angestellten. Zwei Frauen berichteten sogar von Morddrohungen gegen sie. Unter ihnen Jana Labohn. Die staatlich geprüfte Leiterin für Pflegeeinrichtungen sagt: „Sobald man Missstände anspricht, steht man auf der Abschussliste.“ Andere Pfleger, die anonym bleiben möchten, erzählten von Kunden, die gar keine Betreuung bräuchten und unter anderem im Ausland leben, für die allerdings trotzdem Geld eingestrichen werde. Überhaupt gehe es schlicht nicht um die Menschen, sondern nur noch um finanziellen Gewinn. Die geschilderten Fälle trugen sich in Reinickendorf, Charlottenburg und Neukölln zu. Eine Frau habe bei zahlreichen der insgesamt 60 Neuköllner Firmen gearbeitet, aber sie habe kein einziges Unternehmen gefunden, bei dem „alles koscher zuging“.
Neu bei all den Erläuterungen ist die Tatsache, dass auch der nichtstaatliche Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK), der als eine Art TÜV der Pflegedienste fungiert, in Verruf gerät. Von den erhobenen Korruptionsvorwürfen gegen einige seiner Mitarbeiter wurde MDK-Sprecher Hendrik Haselmann am Freitagnachmittag überrascht: „Es wäre schön, wenn uns die Ämter darüber informiert hätten.“ Man nehme das alles ernst und werde jetzt alles daransetzen, die Angelegenheit aufzuklären. Und genau darin könnte das Problem liegen, denn viele mutmaßliche Vernachlässigungen durch die Firmen lassen sich schwer bis gar nicht nachweisen.
Wenn man all das – die Vorwürfe und die Anzeigen und die anscheinende Hilflosigkeit – zusammenfügt, könnte sich das Bild einer gänzlich durchkorrumpierten Branche ergeben. Auf ein Wespennest sei man bei den ersten Prüfungen gestoßen, sagt auch Mittes Sozialstadtrat Stephan von Dassel, von einer generellen Pflegedienst-Schelte will er jedoch nichts hören. „Wir gehen davon aus, dass der Großteil der Anbieter engagiert und gewissenhaft arbeitet. Aber es gibt eben viele, viele schwarze Schafe“, sagt von Dassel. Das Hauptproblemfeld verortet er bei russischen und türkischen Unternehmen – so lassen es auch die Schilderungen der Arbeitnehmer vermuten.
Das Ziel sei es, die Missstände aufzudecken, sagt Neuköllns Stadtrat Büge. Seiner Meinung nach wird das Problem nicht ausreichend gewürdigt, obwohl der Senat jährlich doch 200 Millionen Euro für die ambulanten Pflegedienste ausgibt. Zusammen mit dem Kollegen aus Mitte fordert Büge deshalb, die Zusammenarbeit zwischen den Bezirken, dem Senat, den Pflegekassen und den Ermittlungsbehörden zu stärken und eine zentrale Anlaufstelle für Beschwerden einzurichten. Nur so könne man sich dem Problem stellen, das „mit Sicherheit nicht nur ein berlinspezifisches ist“.
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