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Berlin: Das letzte Werk

Vor einem Jahr stürzte sich die Künstlerin Janine F. aus dem Tacheles in den Tod. Eine ihrer Skulpturen steht noch im Kunsthaus in Mitte

Von Jörn Hasselmann

und Merlind Theile

Als Künstlerin wurde sie zu Lebzeiten nicht berühmt. Doch mit ihrem Tod erregte sie Aufsehen. Ein Jahr ist es heute her, dass die 24-jährige Janine F. nachts aus einem Fenster im fünften Stock des Kunsthauses Tacheles in der Oranienburger Straße sprang. Ein Urlauberpaar aus Nordrhein-Westfalen hatte die Tote am nächsten Morgen im Hinterhof entdeckt und die Szene zunächst für eine schräge Kunstinstallation gehalten. Neben einem ausrangierten Laster lag die Leiche der jungen Frau, eine Puppe, dachte das Paar. Und machte arglos Fotos. Erst ein zwölfjähriger Junge, der mit einer Schülergruppe gekommen war, stellte fest: „Das ist echt.“ Die Polizei wurde geholt – und nahm die Touristen erst einmal in Schutz: „In dieser verrückten Stadt ist doch nichts abwegig“, hatte ein Polizist vor einem Jahr gesagt.

„Es ist tragisch, was damals passiert ist“, sagt Martin Reiter vom Tacheles-Vorstand, „aber das Leben geht weiter.“ Er kannte Janine F. flüchtig, erinnert sich an ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen. Vernünftig habe sie gewirkt, freundlich und talentiert. Auf die Frage, warum sie sich das Leben genommen hat, blickt er ratlos. Er weiß es nicht, er fragt auch nicht danach. „Es springen dauernd Leute aus dem Fenster“, sagt der 41-Jährige.

Im Haus sind nicht viele Spuren von der Künstlerin geblieben. Vor der Eingangstür zum Atelier der Künstlergruppe „Manufaktur“ im dritten Stock, in dem auch Janine F. gearbeitet hatte, steht noch eine ihrer Skulpturen: eine merkwürdig verformte Figur, die den fußballgroßen Kopf und die Arme zum Himmel reckt. Der Mund ist aufgerissen, er schreit stumm.

Vor einem Jahr, nach Janines Selbstmord, ist viel spekuliert worden über ihre Skulpturen. Immer wieder schuf sie Köpfe mit klaffenden Löchern in der Mitte. Hätte man darin eine Warnung sehen müssen, einen Hilferuf? Reiter winkt ab. „Die Janine hat ja nicht nur diese schreienden Köpfe gemacht, sondern auch lustige Sachen“, sagt er, Fantasieblumengebilde zum Beispiel. Zu sehen sind die Werke nicht, alles eingelagert, weggeschlossen. Bis sie jemand abholt.

Auch die beiden Künstler, die im „Manufaktur“-Atelier arbeiten, wollen nicht über Janine F. sprechen. Vor einem Jahr, so hatte die Polizei ermittelt, war die junge Frau am Abend vor ihrem Tod bei ihren Kollegen im Atelier erschienen und hatte dort ihren Freitod angekündigt. Die Künstler hielten dies ungerührt auf Video fest. Dann versuchte ein 32-jähriger Künstler Janine F. zu trösten. Er hatte mit ihr geschlafen, ein Gläschen Jägermeister getrunken und sie anschließend mit dem Auto vor ihrer kleinen Moabiter Wohnung abgesetzt. Doch dort hielt es die 24-Jährige nur kurz. Sie fuhr zurück in die Oranienburger Straße, stieg im Tacheles in den fünften Stock, öffnete ein Fenster und sprang heraus. Im Treppenhaus hatte sie eine Tasche mit einem Abschiedsbrief zurückgelassen.

Die Polizei wollte den spektakulären Fall geheim halten, doch der Tagesspiegel berichtete wenige Tage später darüber. Das polizeiliche Ermittlungsverfahren wurde schnell eingestellt, gegen die Künstler wurde nie ermittelt. Hinweise „auf Fremdverschulden“, wie die Beamten es nennen, ergaben sich nicht – zumindest keine von strafrechtlicher Bedeutung. Das Fenster im fünften Stock, aus dem sich Janine F. in den Tod stürzte, lässt sich nach wie vor öffnen. Es gibt keine Absperrung, kein Gitter. „Damit halten sie niemanden davon ab, sich umzubringen“, sagt Reiter. Neben dem Fenster stehen in großen Buchstaben die Worte „Liebe“ und „Mut“.

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