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Autor Paul Bokowski

© Jan Kopetzky

„Erzähl mal weiter“: Die Checkpoint-Fortsetzungsgeschichte mit Paul Bokowski

Woche für Woche starten Berliner AutorInnen im Checkpoint eine Erzählung. Wie es weiter geht, entscheiden die LeserInnen. Lesen Sie jetzt die ganze Geschichte.

„Erzähl mal weiter“ – gemeinsam mit Berliner AutorInnen und Ihnen wollen wir während der Sommerferien Fortsetzungsgeschichten verfassen. Den Auftakt dieser Woche machte der deutsch-polnische Autor Paul Bokowski. Lesen Sie jetzt die ganze Geschichte.

Matroschka

Intro (Paul Bokowski): Ein schwaches Beben ließ den ziegelgroßen Wecker kleine Luftsprünge machen. Jedes Mal, wenn ich meine müden Lider aufschob, stand er etwas näher an der Kante. Die letzte Uhrzeit, die ich sah, war 06:33 Uhr. Dann ein leiser dumpfer Aufschlag. Tief ins Fell des eingerollten Hundes. Beide unbeeindruckt. Punkt Sieben rissen mich Hund und Wecker aus dem Schlaf. Hoch mit den Rollos. Auf dem Balkon kauerte ein gutes Dutzend Spatzen. Erst als ich die neuen Dreifachfenster kippte, wurde mir klar, warum: Sechs Bauarbeiter standen auf der abgesperrten Kreuzung, braun gegerbt wie altes Leder, und zerpflückten den Asphalt. Ein siebter brunchte Stulle, seelenruhig zwischen den Presslufthämmern, und beäugte einen achten, neu und blass, der mühevoll mit dem Raupenbagger kämpfte. Stolz hebelte er einen breiten Brocken Fahrbahn aus dem Boden, als unter dem Asphalt der Seestraße, matroschkagleich, ein breites makelloses Kopfsteinpflaster sichtbar wurde: die Seestraße, die alte...

Teil II (Axel Jürs): ...Kiezmagistrale, die auch zum Strandbad Plötzensee führt. Zu dem ist offenbar auch ein Alt-68er auf seinem Fahrrad unterwegs. Von seinem schütteren langen Haar ist es allerdings nur drei Strähnen erlaubt, frei im Wind zu flattern, die anderen sind zu einem Zopf diszipliniert. Er hält an und ruft etwas in Richtung Baustelle, das den Bauarbeiter veranlasst, den Bagger auszustellen. „Wat is‘?“ fragt der, eine Motzerei erwartend. Von der Antwort schafft es nur „…Strand!“ zum Baggerfahrer und zu mir auf den Balkon. Der winkt in Richtung Plötzensee und lässt den Bagger wieder an. So entgeht ihm, was der Alt-Revoluzzer dem jungen Spund hatte anvertrauen wollen: „Unterm Pflaster liegt der Strand!“

Sehnsuchtsziel: Der Plötzensee in Wedding.

© Kitty Kleist-Heinrich

Teil III (Miriam Leich): Seufzend ließ ich das Rollo scheppernd wieder nach unten sausen, um mich noch einen Moment im Halbdunkel an den neuen Tag zu gewöhnen. Der Hund saß schwanzwedelnd in Erwartung seines Frühstücks vor dem Bett – mir selbst reicht morgens ein Kaffee. Ich bin einfach kein Morgenmensch, mein Magen kommt erst ab zehn in die Gänge. Ich brauche Zeit. Und Ruhe! …Oh, dieser verdammte Bagger! Kaum macht der Fluglärm in Tegel eine Pandemiepause, reißen sie bei mir vor der Tür die Straße auf. War ja klar! Ich blickte entnervt zur Decke und zuckte zusammen: Risse! In meiner schönen Altbaudecke. Optische Täuschung? Spinnenweben? Doch da rieselte mir der Stuck bereits staubig ins Gesicht...

Teil IV (Karl Pfaff): ...Müde griff ich nach der am Vorabend bereitgestellten Wasserflasche neben meinem Bett. Der plötzlich sichtbar werdende Verfall meiner Wohnung kam heute zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Das für den Nachmittag terminierte Rendezvous würde ich nicht ein weiteres Mal verschieben können und ein Anruf bei der Hausverwaltung schien in etwa so aussichtslos wie der Wunsch nach einem Morgen ohne Kopfschmerzen nach einer durchzechten Nacht in der Kneipe unten an der Ecke. Ich war gerade dabei mich aus dem Bett zu kämpfen, als es an meiner Tür klopfte…

Teil V (Paul Bokowski).... Ich war gerade dabei mich aus dem Bett zu kämpfen, als es an meiner Tür klopfte… In einem flotten Rhythmus dämmerte es von der Tür. Dann aber kam ein Hämmern aus der Wand, es klopfte in der Heizung, unter dem Parkett, selbst die Zimmerpflanzen hüpften mit jedem Schlag in eine neue Formation, als mit einem Krachen ein Brocken meiner Zimmerdecke ausgehebelt wurde. Stuck und Putz rieselten hernieder. Wecker, Hund und Bücher aber wurden, wie durch einen Unterdruck, hinaufgesogen. Dann aber ward es still. Langsam zog ich mir die Daunendecke vom Kopf. Drei Meter über mir schoben sich Gesichter über den bröckeligen Rand des Loches. „Unterm Pflaster liegt der Strand und schläft!“, jubilierte der schneeweiße Alt-68er. „Ick hab’ hia noch zwee Kindl und’n Flutschi“, schob die alte Wirtin hinterher. „Ich hab’ um Viere Schluss, aber keine Fisimatenten, ich bin ein anständiges Mädchen“, sagte der braungegerbte Kolonnenführer. Dann senkte sich die Baggerschaufel durch das Loch, glitt über mich hernieder und schwebte wie in Zeitlupe, Millimeter nur, über den Snooze-Button meines Weckers. Wie auf Kommando klingelte er, ich riss die Augen auf, fuhr hoch, in die unversehrte Stille meines Schlafzimmers hinein. 06:34 Uhr. „So ein Quatsch“, dachte ich. „Ich hab’ doch keinen Hund.“

Hier geht es kommende Woche mit der nächsten Geschichte weiter – dann mit Hatice Akyün. Abonnieren Sie jetzt den Tagesspiegel Checkpoint und schreiben Sie mit!

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