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Berlin: Die Computer-Kinder vom Alexanderplatz Die Kaufhof-Spielzeugabteilung dient Schülern als Familienersatz

Der Verkäufer im Nintendo-Laden im Kaufhof am Alexanderplatz holt ein Papier aus dem Ordner. Darauf steht: „Mein Sohn, Norbert Fromm, darf zwei Stunden am Tag spielen“.

Der Verkäufer im Nintendo-Laden im Kaufhof am Alexanderplatz holt ein Papier aus dem Ordner. Darauf steht: „Mein Sohn, Norbert Fromm, darf zwei Stunden am Tag spielen“. Geschrieben hat es die Mutter von Norbert, dem siebenjährigen Jungen, der Anfang der Woche zwei Nächte lang verschwunden war. Die Notiz stammt vom 4. Oktober. Weil er nur zwei Stunden spielen durfte, sei Norbert seitdem erst um 17.45 Uhr gekommen und bis zum Ladenschluss geblieben, erzählt Frank, der Nintendo-Mann. Er möchte seinen Nachnamen nicht nennen.

Norbert sei einer der 10 bis 15 Jungen, die zum „harten Kern“ gehören, sagt Frank. Sie kämen jeden Tag und spielten stundenlang an den fünf Playstations. Sie sind acht, neun und zehn Jahre alt. Zum Beispiel Marco (Name geändert). Er ist acht und schmächtig und geht in die dritte Klasse. Er hat eine dreckige ballonseidene Hose an und Haare, die schon einige Zeit kein Wasser mehr gesehen haben. „Ich bin jeden Tag hier“, sagt er, „meine Mutter muss nachmittags immer noch wohin.“ Hier im Kaufhof treffe er andere, und überhaupt sei das „Super smash brothers“-Spiel das Spannendste. Der zehnjährige Nico kommt „öfter mal“ für ein paar Stunden. Es ist halb drei, bis fünf wolle er bleiben. Seine Mutter wisse Bescheid, er wohne um die Ecke. Der neunjährige Robert wohnt in Wedding und geht auf eine Schule am Hackeschen Markt. Für ihn wie für die anderen ist die Nintendo-Ecke im Kaufhof eine ebenso selbstverständliche Anlaufstation, wie für andere Kinder das Mittagessen zu Hause oder der Fußballplatz. Hausaufgaben haben sie keine, sagen sie. Oder welche für nächsten Montag. Nico macht seine Aufgaben „sowieso erst abends“.

Frank ist für die Kinder eine Art Vaterersatz. Den „harten Kern“ kenne er seit zwei Jahren, seit er hier arbeitet. Manchmal kämen Eltern vorbei, die ihn kennen lernen wollen, weil die Kinder von ihm erzählen. Manche würden ihm ihre Visitenkarte dalassen, damit er anrufe, wenn die Jungs vormittags auftauchen statt in die Schule zu gehen. Zehn bis zwanzig Kinder würden am Tag kommen, am Samstag seien es mehr als 35. „So viel nimmt keine Kindergärtnerin an.“ Frank fühlt sich mittlerweile mehr als Sozialarbeiter denn als Nintendo-Berater.

Viele Eltern würden ihre Kinder bei ihm einfach „abstellen“, damit sie sich nicht um sie zu kümmern brauchen. In vielen Elternhäusern laufe etwas schief, vermutet Frank, entweder ein Elternteil trinke, viele Mütter seien alleinerziehend. Das hätten ihm die Kinder erzählt. Er mache mit ihnen Hausaufgaben, die Älteren zeigen ihm ihre Bewerbung, einem Mädchen haben er und sein Kollege eine Lehrstelle in der Kaufhof-Backstube besorgt. Manchmal allerdings gehe es schlichtweg darum, dass die Kleinen etwas essen oder trinken. Einer sei schon einmal umgefallen, im Sommer, da sei es an den Geräten unter den Lichtspots besonders heiß.

Der Alex zieht mittlerweile Schüler aus allen Bezirken an, sagt Frank. Aber nicht nur in Berlin sind die Playstations für viele wie Ersatzfamilien. Im Nintendo-Shop in München kümmern sich regelmäßig eine Sozialarbeiterin und ein Kripobeamter um die Kinder.

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