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Berlin: Die Musik der Schlagzeilen

Seit 1954 wurde der Tagesspiegel in der Potsdamer Straße gedruckt. Jetzt geht es in Spandau weiter

Um 18 Uhr 36 drückt er auf den ersten Knopf – langsam läuft die Maschine an. Alles okay. Jetzt den Knopf mit dem Plus-Zeichen. Es geht schneller. Noch schneller. Die Sache kommt auf Touren. Dritter Gang, Automatik. Jetzt vibrieren die Schreibtische. Jetzt brüllt sie ihre Musik heraus, ein Dröhnen füllt die Halle, immer der gleiche Ton – Stampfen, Rauschen, Singen. Der tägliche Choral. Die rasende Rotation frisst riesige Papierrollen, zerkleinert und verzaubert sie zu bedruckten, gefalzten Zeitungen. Draußen stehen die Männer in ihren Tagesspiegel-Jacken, stopfen die Pakete mit dem Parfüm frischer Druckerfarbe in die Tragetaschen und schleppen den Andruck der ersten Ausgabe auf die Straßen und in die Kneipen.

Aber nun ist Schluss mit der Andruckmusik auf unserem Hinterhof: Sonntagabend lief – wie immer bis tief in die Nacht – die letzte Schicht. Heute, am Montag, wird Abschied vom Druckort Potsdamer Straße gefeiert. Dann drehen sich die Zylinder der Rotation schon im Druckhaus Spandau. Dort ist es möglich, noch schneller und auf allen Seiten vierfarbig zu drucken (Näheres morgen in einer Verlagsbeilage). Das Druckhaus in der „Potse“ wird im nächsten Frühjahr abgerissen, damit an gleicher Stelle ein Bürogebäude entstehen kann, Mitte 2006 soll der erste Bauabschnitt fertig sein. Und die Rotationsmaschine läuft dann längst an einem anderen Ort: Sie wird ab- und in einem osteuropäischen Land wieder aufgebaut.

Ihre Premiere vor zwölf Jahren war für den Tagesspiegel ein großes Ereignis. Ende September 1989 hatte der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper auf unserem Hof den Grundstein für ein neues Druckereigebäude gelegt. Ab 2. April 1991 ermöglichte dann die neue Rotation einen Wechsel vom „Rheinischen“ ins größere „Nordische“ Format, statt fünf gab es nun sechs Spalten. Zuvor war in einem kleineren Gebäude gedruckt worden, auf einer zuletzt recht pannenanfälligen Maschine. Seit 1954 war dort der Tagesspiegel (und über Jahrzehnte auch „Der Abend“) zu Papier gebracht worden.

Beim feierlichen Start der neuen Anlage 1991 wünschte der nun „Regierende“ Eberhard Diepgen der Festversammlung Erfolg bei dem Vorhaben, „das Geistreiche mit dem Rentablen glücklich zu verbinden“, und Chefredakteur Hermann Rudolph konstatierte: Die neue Lage der Stadt ist unsere Chance. Als die Reden gehalten und die Biergläser leer getrunken sind, beginnt der allnächtliche Alltag der Drucker an ihrem „KBA-Express“, und da möchten wir natürlich zum Ende der über zwölfjährigen Ära ein paar schnurrige Geschichten hören. Dirk Wika, der sich selbst als „Bademeister“ bezeichnet, in Wahrheit aber Rotationsleiter ist, schwärmt von einem wunderbaren Betriebsklima unter den Druckern. Unter ihnen gibt es begeisterte Hobby-Köche, die manchmal in den Pausen zwischen den Druckvorgängen der ersten, zweiten und letzten Ausgabe ihre Künste praktizieren. Einmal wurde so heftig gebrutzelt, dass der Rauchmelder ansprang: Plötzlich raste die Feuerwehr mit ein paar Löschzügen auf den Hof. In einem anderen Fall wurden die Schläuche und Pumpen Hände ringend erwartet, ein Wasserrohr war gebrochen und hatte den Keller geflutet, in dem die Papierrollen (30 Zentner schwer, acht Kilometer lange weiße Bahn) lagerten. „Am Sonntag früh haben wir das gemerkt, am Abend wurde trotzdem gedruckt.“ Auch das Rohr eines Farbtanks ist einmal geplatzt. Es war ein schwarzer Tag, als die Druckerschwärze, diese Mischung aus Mineralölfirnis und Ruß, zentimeterhoch über den Boden der Rotationshalle schwappte.

Schichtleiter Joachim Wittig, seit 30 Jahren am Druckwerk, bewundert rückblickend, dass es der Rotationsfamilie immer wieder gelang, das manchmal etwas eigensinnige Arbeitsgerät auf Trab zu bringen. „So richtig lieb ist uns diese Maschine nie ans Herz gewachsen“, sagt er, „von 365 Nächten gab es vielleicht zwanzig, an denen mal nichts passierte“. Nur einmal, vor Jahren, ging gar nichts mehr. „Wir kamen einen Tag später raus, am 1. Mai, an dem wir normalerweise nicht erscheinen.“

Der Mann fährt nun von seinem Lübars nach Spandau, einige treffen sich dort wieder. Für andere, vor allem die Kollegen der Weiterverarbeitung, wird das Aus der Rotation leider auch ein Abschied vom Berufsleben mit der schwarzen Kunst. „Hier war das Paradies“, sagt der Schichtleiter, „ dort stehen wir vor dem Neuen wie damals vor der Bleimaschine mit den 13 Kilo schweren Druckzylindern oder später vor den Plastik-Platten. Haben wir immer alles geschafft, schaffen wir auch diesmal.“

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