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Was bleibt. Das Haus Roscherstraße 5, nahe Ku’damm. 

© Mike Wolff

Roscherstraße: Die traurige Geschichte der Juden am Ku'damm

Ein Haus und seine Vergangenheit: In der Roscherstraße 5 gehörten die jüdischen Bewohner gleich nach Hitlers Machtergreifung zu den Verfolgten. Sie mussten fliehen oder wurden ermordet.

Welthistorie und Stadtgeschichte steckt in ihren zahllosen Bruchstücken mitunter in einzelnen Häusern. Der gut 100 Jahre alte Gründerzeitbau in der Roscherstraße 5, ein bürgerliches Wohnhaus in Charlottenburg wenige Meter vom Lehniner Platz und dem Kurfürstendamm, ist ein Beispiel – auch für das, was im Berliner Alltag zur Zeit der Machtergreifung durch Hitler geschah.

Den Nationalsozialisten galt der Berliner „Neue Westen“ entlang dem Ku’damm als „stark verjudet“ und liberal; dort lebten wohlhabende Ärzte und Anwälte neben den im NS-Jargon „entarteten“ Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und „zersetzenden“ Intellektuellen. Dazu boomte im Westen seit den 1920er Jahren das demimondäne Nachtleben in Bars, Cafés, Varietés und Kabaretts.

Schon im Jahrzehnt vor der NS-Machtergreifung am 30. Januar 1933 zogen hier die SA-Sturmtrupps los, einen brutalen Höhepunkt erreichten die pogromähnlichen Kurfürstendamm-Krawalle am 12. September 1931 anlässlich des jüdischen Neujahrsfestes. Nach dem Machtantritt führten die Nazis den ersten Akt der öffentlichen Judenverfolgung auf Straßen und Plätzen am 1. April 1933 auf. SA-Posten bedrohten Kunden, die jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Kanzleien betreten wollten. Es folgten Plünderungen, Misshandlungen und Verschleppung in die bereits Mitte 1933 eingerichteten Konzentrationslager.

Die brutale Zeitenwende betraf auch die Bewohner des Hauses Nr. 5 in der nördlich des Lehniner Platzes 1908/09 als kurze Seitenstraße des Ku’damms angelegten Roscherstraße. Zu den ersten Mietern des 1911 bezugsfertigen Hauses Roscherstraße 5 gehörte die Witwe Doris Davidsohn mit ihren Kindern. Ihr ältester Sohn Hans, der sich in Jakob van Hoddis umbenannte, war einer der bedeutendsten expressionistischen Lyriker. Im selben Jahr 1911 hatte er in der Zeitschrift „Der Demokrat“ das berühmte Gedicht „Weltende“ veröffentlicht, das mit den Zeilen begann: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei“, und später dann „Der Sturm ist da...“

Max Wollsteiner, Prokurist bei der Berliner Privatbank von Wilhelm Kuczynski, bezog mit seiner Familie 1913 eine Wohnung in der ersten Etage des Vorderhauses Roscherstraße 5. Sohn Hans, der erste Impresario von Marlene Dietrich, wohnte später hier auch mit seiner Frau.

Verschleppt, ermordet, auf der Flucht

Die dritte Etage des Hauses wurde einst als Waisenhaus genutzt.
Die dritte Etage des Hauses wurde einst als Waisenhaus genutzt.

© Sonderarchiv Moskau

1911 kam der Rabbiner Julius Grünthal mit seiner Familie aus Polen nach Berlin, um gemeinsam mit seiner Frau die Leitung des 1906 gegründeten Jaffa'schen Fürsorge- und Waisenheims zu übernehmen. Die vierköpfige Familie Grünthal, etwa 20 Zöglinge des Waisenheims sowie drei Dienstmädchen und eine Erzieherin bezogen die gesamte dritte Etage des Vorderhauses. So wurde die Roscherstraße 5 auch zum Elternhaus des später berühmten Komponisten Josef (Grün-) Tal, einem Schüler von Paul Hindemith. Vater Grünthal unterrichtete neben seiner Tätigkeit als Heimleiter an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin-Mitte (heute Tucholskystraße 9, als Sitz des Zentralrats der Juden).

Dort hörte auch Franz Kafka während seiner Berliner Zeit Ende 1923, Anfang 1924 Grünthals Vorlesungen. Dem Dozenten fiel der damals noch unbekannte Prager Autor durch kluge Fragen auf und wurde deshalb zusammen mit seiner Freundin Dora Diamant zum Kaffeebesuch in die Roscherstraße 5 eingeladen.

Der Nazi-Terror trifft die Lebensschicksale dieser drei jüdischen Familien. Max Wollsteiner wurde schon 1932 durch Briefe und nächtliche Anrufe bedroht und befürchtete nach der NS-Machtergreifung die Verschleppung in ein Konzentrationslager. Wie auch Doris Davidsohn hatte er sich in der zionistischen Bewegung engagiert. Die sich zuspitzende antisemitische Stimmung dürften der Grund dafür sein, dass beide Familien sich bereits 1933 zur Flucht in die Emigration entschlossen. Allerdings musste Hans Davidsohn alias Jakob van Hoddis zurückgelassen werden, da er nach Ausbruch einer Psychose seit 1922 in Pflegeanstalten lebte. Der Dichter des „Weltendes“ wurde dann 1942 verschleppt und vermutlich in Sobibor ermordet.

Max Wollsteiner musste vor der Emigration seine edle Wohnungseinrichtung unter Wert verkaufen; die Akte zu dem von seinem Sohn beantragten Entschädigungsverfahren offenbart die Tragik der Situation und steht exemplarisch für massenhafte Enteignung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, bei gleichzeitiger Bereicherung von arischen Haushalten und Institutionen.

1933 geriet das Haus – wie auch Nachbarhäuser in der Roscherstraße – unter Zwangsverwaltung und wurde 1934 zwangsversteigert. Es kam zu einer Auswechselung fast aller Mietparteien. Josef (Grün-)Tal gelang 1934 die Flucht nach Haifa; er machte sich als Pionier elektronischer Musik einen Namen und starb 2008, hochbetagt und inzwischen auch Mitglied der Berliner Akademie der Künste, in Jerusalem. Seine Eltern, das Ehepaar Grünthal, zogen in die nahegelegene Nestorstraße. Ein Stolperstein für Julius Grünthal findet sich aber vor dem Haus Wielandstraße 12 in Charlottenburg. Vermutlich musste er nach dem Tod seiner Frau 1939 in ein „Judenhaus“ umziehen. Wie andere flüchtete auch Julius Grünthal in die Niederlande; er wurde von dort deportiert und im April 1943 in Sobibor ermordet.

Heute erinnert die Vielzahl der ins Trottoir eingelassenen Stolpersteine an diese Schicksale (in Charlottenburg-Wilmersdorf sind es 1822). Am 19. März sollen im Quartier nördlich des Lehniner Platzes nun 23 neue Steine verlegt werden, davon vier für Deportierte und Ermordete aus dem Haus Roscherstraße 5. Und auch dann wird nur einem Bruchteil der Opfer gedacht.

Die Autorin ist Stadtplanerin und hat 2012 zur Geschichte Charlottenburgs das Buch „Ein Stück Stadt ergründen“ veröffentlicht (Filum Rubrum Verlag, Nauen).

Heidede Becker

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