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Die alten Helden. In zwei Jahren feiert das Kabarett seinen 65. Geburtstag. So sah die alte, berühmte Truppe aus. Von links nach rechts beginnend mit Günter Pfitzmann oben in der Mitte waren das Rolf Ulrich, Achim Strietzel, Ingeborg Wellmann, Inge Wolffberg, Jo Herbst, Wolfgang Gruner und Klaus Becker. Foto: Promo

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Das Kabarett Die Stachelschweine bläst zum Aufbruch: Die Widerborstigen

Tradition ist ja schön, aber Zukunft ist besser: Die Stachelschweine im Europacenter wollen den alten Kabarettmuff auskehren. Der neue künstlerische Leiter will den Laden frischer und frecher machen.

Stachelschweine? Ah ja, da war mal was. Dieser Gruner, oder? Die fernsehbekannte Quasselstrippe, immer als Berliner Taxifahrer. Aber sonst? Hm. Gibt’s denn die überhaupt noch? Seit Jahren nüscht gehört. Und überhaupt – politisches Kabarett! Ist mangels karikierbarer Charakterköpfe doch längst tot und begraben. Satiregipfel im Fernsehen gucken nur noch alte Sozis und der Selbst-Ansager Nuhr ist eigentlich Comedian.

Das ist die Lage, als aus dem mutmaßlich nur von todesmutigen Touristen betretenen Untergeschoss des Europacenters vor ein paar Tagen doch tatsächlich eine Botschaft des Kabaretts Die Stachelschweine dringt. Man sei natürlich am Leben, heißt es darin. Und wie! Ein neuer künstlerischer Leiter sei bestimmt, mit Comedy-, ja sogar Fernseherfahrung. Ein Zehn-Punkte-Plan zur Auffrischung und Auffrechung stünde an. Und Sonntag habe das neue Programm „Gestochen scharf“ Premiere. Na, dann hinweg mit den Vorurteilen und auf zur öffentlichen Generalprobe Donnerstagabend am Tauentzien.

Da residieren die 1949 als erstes deutsches Nachkriegskabarett gegründeten Stachelschweine immerhin schon seit 1965. Rolltreppe runter. Links eine Bierbar, rechts eine Pizzeria, dazwischen grüßt ein großes Holzstachelschwein, hier geht es rein ins Foyer. Der schwarz-weiße Retroschick ist original Sechziger, die Wand mit den schwarz-weißen Fotos zeigt die glorreiche Vergangenheit – Premieren brechend voll mit Prominenz aus Politik und Unterhaltung. Selbst Bundeskanzler waren da.

Rolf Ulrich war Gründer der Truppe, zu der bald Günter Pfitzmann, Wolfgang Gruner und Achim Strietzel gehörten und die zuerst noch im Künstlerlokal „Die Badewanne“ in der Nürnberger Straße spielte. In den Sechzigern übertrug das Fernsehen dann regelmäßig die Programme der West-Berliner Satirespeerspitze. Genau wie bei der Münchner Lach- und Schießgesellschaft begründete das die bundesweite Popularität.

Inzwischen sind die Helden der Stunde null tot. Gründer Ulrich starb 2005, Ensemblestar Gruner 2002, drei Gesellschafter führen heute das unsubventionierte Privattheater mit seinen 330 Plätzen. Dazu gehört auch Rolf Ulrichs Witwe, die Schauspielerin Andrea Brix, die früher auch im Ensemble war. Die Stachelschweine im Westen und Die Distel im Osten am Bahnhof Friedrichstraße sind Berlins letzte Kabaretthäuser mit eigenen Schauspielerensembles. Gespielt wird im Europacenter an sechs Tagen die Woche. „Wir überleben“, sagt Geschäftsführerin Charlotte Reeck, spricht von einer Auslastung von knapp 60 Prozent und dass Gesellschafter und Mitarbeiter der Idealismus treibt und nicht das Geld. Das muss natürlich trotzdem reinkommen. Touristen kommen, Schülergruppen kommen, auch Stammgäste. Wie in jedem Theater dürften gern mehr Jüngere dabei sein. Die kennen allerdings Wolfgang Gruner nicht mehr.

Am Devotionalienstand ist auf den Buchdeckeln hauptsächlich das Konterfei des einstigen Zugpferds zu sehen. „Den vermisse ich immer noch“, sagt eine ergraute Dame zum Garderobier und reicht ihm ihren Mantel. „Der war einfach der Beste.“ Doch wo Not ist, wächst das Rettende auch.

Denn was die Dame noch nicht weiß – nur ein paar Meter entfernt steht der neue Hoffnungsträger des Hauses und besieht sich das hereinströmende Publikum. Matthias Kitter heißt der Mann, der dem in die Jahre gekommenen Kabarett wieder die Stacheln anspitzen soll. Eloquent genug ist er. Er wolle aus den Stachelschweinen wieder eine gewichtige satirische Institution machen, verkündet der 54 Jahre alte Regisseur. Sein Credo lautet: gutes Amüsement zu relevanten Themen mit zeitgemäßen Mitteln. „Ich will das Genre Kabarett in die nächste Generation tragen“, sagt er, „es muss doch nicht alles nur Comedy sein.“ Kitter wird es wissen, er kann beides. 2009 hat er erstmals bei den Stachelschweinen Regie geführt und davor lange Jahre beim Fernsehen, etwa bei „Schmidteinander“, der „Wochenshow“, „Mensch Markus“ und der „Kurt Krömer Show“. Zehn Jahre hat er neben seinem Kölner Wohnsitz in Potsdam gewohnt. Jetzt, wo er künstlerischer Leiter der Stachelschweine ist, braucht er auch eine Bleibe in Berlin. Bestimmt kein Problem, wo der Posten so fürstlich dotiert ist? Kitter lacht. Fürs Regie führen bekommt er Honorar, der Job des Hausvisionärs ist einstweilen Ehrenamt. „Geld verdiene ich draußen, hier drinnen möchte ich Spaß haben“, sagt Kitter.

Die neuen Helden. Matthias Kitter, der künstlerische Leiter der Stachelschweine und sein Schauspielerensemble Holger Güttersberger, Detlef Neuhaus, Kristin Wolf und Birgit Edenharter (von links nach rechts). Foto: Georg Moritz
Die neuen Helden. Matthias Kitter, der künstlerische Leiter der Stachelschweine und sein Schauspielerensemble Holger Güttersberger, Detlef Neuhaus, Kristin Wolf und Birgit Edenharter (von links nach rechts). Foto: Georg Moritz

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Auch ohne seinen Zehn-Punkte-Plan mit Posten wie „mehr Produktionen, Nachtprogramm im Foyer, mehr Gastspiele“ detailliert runterzubeten, ist die Stoßrichtung klar. Weg vom deklamatorischen Kabarett, vom moralischen Zeigefinger, von der Parteipolitik. Hin zu szenischen Sketchen, Videoeinspielern, mehr Tempo, höherer Gagdichte, gesellschaftlichen Phänomenen. Das neue Programm zur Bundestagswahl 2013 haben zwei Autoren verfasst, die auch fürs Fernsehformat „Switch“ schreiben: Ralf Linus Höke und der Weddinger Lesebühnen-Hero Volker Surmann (Die Brauseboys). Surmann und sein Kollege Marc-Uwe Kling, der als Poetry Slammer begann und inzwischen als preisgekrönter Kabarettist übers Land zieht, sind ein Beleg dafür, wie die junge Lesebühnenszene das einst von Meistern wie Kurt Tucholsky oder Erich Kästner geprägte Genre literarisches Kabarett wiederbelebt. Gesellschaftssatire in theatraler Form nennt Vordenker Kitter das, eben kein vermufftes politisches Kabarett. Bei „Gestochen scharf“ ist das allerdings schwer zu unterscheiden. Darin geht es darum, dass dem Theater eine Kündigung wegen der anstehenden Luxussanierung des Europacenters ins Haus flattert. Als Gegenwehr gründet die Truppe die Stachelschwein-Partei. Die vom Viererensemble munter gespielte und besonders in der zweiten Hälfte verblüffend knackige und bissige Show löckt wacker gegen Meinungsmache und Mechanismen des Politikgeschäfts. Die Sache zündet, immer wieder gibt es Szenenapplaus im bestens besetzten Saal. Der ist übrigens nicht mehr original, sondern wurde 1989 renoviert. Was die schwarzen Zacken an der Decke sollen? „Das sind Stacheln“, erklärt Matthias Kitter. Klar.

Und dann ist die Expedition ins Untergeschoss des Europacenters vorbei. Das Publikum strömt Richtung Garderobe. Doch eine Sache wäre da aus dem Zehn-Punkte-Plan noch. 2014 werden sie 65, die Stachelschweine. Dann wollen sie erstmals den Berliner Kabarettpreis verleihen. Bislang gibt es keinen. Wie die Trophäe heißen soll? Matthias Kitter wiegt den Kopf. „Wir haben lange überlegt“, grinst er, „und sind auf ,Stachelschwein‘ gekommen.“ Also das ist jetzt wirklich visionär.

Die Stachelschweine im Europacenter, Tauentzienstraße 9–12, Charlottenburg, Programm: www.diestachelschweine.de, „Gestochen scharf“ hat am Sonntag um 18 Uhr Premiere.

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