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Berlin: Drei Texas-Girls auf Heimaturlaub

Vor 67 Jahren floh die Berlinerin Edith Wolffberg vor den Nazis nach Amerika Jetzt ist sie 102. Und mit Tochter und Enkelin auf Spurensuche in der Stadt

Dies geschah vor einem Jahr in Texas: Hingefallen, die Hüfte gebrochen, ins Krankenhaus gekommen. Die Hospitalverwaltung las das Geburtsjahr: ’04 – und rief zu Hause an, um nach der Mutter der kleinen Edith zu fragen. Aber die war längst tot. Edith war nicht eins. Sie war 101.

Und dies geschieht gerade in Berlin: Drei Frauen sind zu Besuch. Sie sind aus Texas. Sie sind Mutter, Tochter und Enkelin. Sie sind klein, mittel und groß. Sie waren im Zoo und im Charlottenburger Schloss. Jetzt klappern sie ihre alten Adressen ab und erkennen nichts wieder. Vor dem Weinbergsweg 4 in Mitte haben sie ihre Köpfe verdreht und die Häuserwand hochgeguckt. Dann warteten sie, dass die Kleine was sagt. Aber die schwieg. „Na, Mutti, erkennst Du was?“, fragte die Mittlere. Nein, nichts.

Die drei Frauen aus Texas sind 102, 75 und 52 Jahre alt. Die Kleinste und Älteste ist Edith Wolffberg. Vom Hüftbruch genesen und wieder gut zu Fuß. Sie ist gebürtige Berlinerin, Mädchenname Selig. 1939 floh sie vor den Nazis. Da war Tochter Helga acht – und an Enkelin Charlene nicht zu denken.

Edith Wolffberg ist eher winzig als klein, ihr braun gebranntes Gesicht ist von hunderten Runzeln durchzogen und sie hat kurze weißgraue borstige Haare. Manchmal reichen ihr die Tochter (ganz in Altrosa) oder die Enkelin (rosa Hose und rote Jacke, lange graue Haare) den Arm, um sie zu stützen. Ansonsten hat sie eine rollende Gehhilfe. So sind sie stundenlang durch die Stadt gezogen. Mit Bus und Bahn. „Das ist ja so wunderbar hier“, sagt Helga Höfner, die Tochter und Wortführerin in dem Texas-Trio (Enkelin Charlene spricht außer dem Wort „Käsekuchen“ nur englisch). Überall komme man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hin. „Wer in Texas kein Auto hat, kommt nirgends hin“, sagt sie.

Einzeln oder mit anderen waren alle schon mal in Berlin. Die Enkelin sogar in einem historischen Moment. Am 9. November 1989, „when the wall came down“. Great! Sie hat auf der Mauer gestanden. Sie hat sogar zwei originale Steine aus der Mauer. Die Stadt habe sich verändert, sagen sie. Die Häuser alle so hübsch jetzt, die Fassaden in hellen Farben. Die Straßen so breit und sauber, abgesehen von dem, „was die Hunde machen“. „Es ist so schön hier“, sagt Edith Wolffberg. Und die Menschen sind so nett.

Als Kind hat Edith Selig im Weinbergsweg 4 gewohnt. Der Vater hatte dort einen eigenen Betrieb. „Das Haus gehörte uns“, sagt sie. Gleich gegenüber vom Walhalla-Theater. Eine Varieté-Bühne, zerstört im Krieg. Da war sie früher oft. „Schön war das!“ Dann zeigt sie die Straße hoch und ruft: „So viele Autos!“ „Da hat ja wohl jeder eins!“ Und dass die alle auf der Straße parken! Das gibt es in Killeen nicht, wo sie jetzt wohnt. Killeen, Texas, knapp über 90 000 Einwohner, Durchschnittsalter: junge 27. Vielleicht fühlen die drei – Durchschnittsalter 76 – sich deshalb so wohl, wo sie untergekommen sind: im Jugendhotel in der Grünberger Straße in Friedrichshain.

Gegen die Kälte (in Texas sind über 20 Grad) trägt Edith Wolffberg einen bodenlangen Steppmantel und auf dem Kopf eine dicke Mütze, die wie Schallschutz auf den Ohren sitzt. Helga Höfner stellt der Mutter Fragen, nach Berlin und dem Leben damals. Aber die weiß nicht mehr so viel. Sie sagt: „Ach, Helgachen, ich hör’ dich so schlecht“ – und lässt die Mütze auf.

Als Edith Selig heiratete, zog sie nach Steglitz. In die Friedenstraße 10, heute Gritznerstraße, wo Tochter Helga ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Auch dort sind die drei gewesen. Es war wie am Weinbergsweg. Sie verdrehten ihre Köpfe, guckten die Häuserwand hoch und warteten. „Is that your house?“ fragte schließlich die Enkelin. Diesmal schüttelte die Mittlere den Kopf.

Als sie vor den Nazis flohen, waren sie schon eine vierköpfige Familie, es ging erst nach Bolivien, dann nach Amerika.

Neben dem Jugendhotel ist eine türkische Bäckerei. „Da gehen wir immer hin“, sagt Helga Höfner. Sie bestellen heiße Schokolade und Käsekuchen. Sie nippen vorsichtig. „Schmeckt sehr gut“, sagt Edith Wolffberg. Der Enkelin hält sie eine Gabel mit Kuchen hin: „Koste mal.“

Kosten statt probieren, sich auf etwas besinnen statt erinnern. Edith Wolffberg spricht klar und fein. Seit 66 Jahren ist Deutsch eine Fremdsprache, wo sie lebt. Nur mit der Tochter hat sie immer ihre Muttersprache gesprochen. Andere Verbindungen hat sie nicht mehr, auch keine Sehnsüchte. Wo immer sie gerade war, habe es ihr irgendwann auch gefallen, sagt Edith Wolffberg. Man müsse immer das Beste aus allem machen. „Und der Mensch ist ja ein Gewohnheitstier“, sagt sie und kichert vergnügt.

Woher die alte Dame ihre Unverwüstlichkeit nimmt, wisse niemand, sagen Tochter und Enkelin. Sie sind selber voller Bewunderung. Die Enkelin erzählt von einem Familienausflug nach Disneyland. Mit fünf Generationen: Edith, Helga, Charlene, ihr Mann, ihre Kinder und deren Kinder. Und wer ist mit in alle Karussels gegangen? Die Ururoma, damals 99 Jahre alt.

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