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FÜNF  MINUTEN  STADT: Ein Versprechen

An einer Bushaltestelle in Charlottenburg, früher Abend.

Von Maris Hubschmid

An einer Bushaltestelle in Charlottenburg, früher Abend. Eine nicht mehr ganz junge Mutter, elegant gekleidet im hellbraunen Mantel mit Lederhandschuhen und Reisetasche, erreicht mit ihrem Sohn das Wartehäuschen. Der Junge setzt sich auf den einzigen freien Platz neben eine Frau um die siebzig. Ihr langes, graues Haar hat sie zu einem unordentlichen Dutt geknotet. Ihre Kleider wirken abgetragen, sie hat eine Krücke. „Na mein Kleiner, wie heißt du denn?“, fragt sie. Die Stimme ist rau. „Julien“, sagt er. „Ju-li-an, ein schöner Name.“ „JuliEN“, korrigiert der Junge, spricht es französisch aus. „Na, so was“, sagt die Wartende. „Und wie alt bist du?“ Julien erzählt bereitwillig: dass er acht ist, sie zum Bahnhof fahren, seine Cousine besuchen. Die Alte singt: „Wir fahren nach Amerika, wer will mit? Die Katze mit dem langen Schwanz, die fährt mit.“ Der Junge lacht. „Fährst du auch Zug?“, will er wissen. Nein, sie fahre nur vier Stationen Bus, antwortet sie. „Schade“, findet er. „Man sieht sich immer zweimal im Leben“, flüstert die Frau bedeutungsschwanger. Er blickt sie aufmerksam an. „Vielleicht heirate ich dich“, erklärt er. „Oho“, lacht die Alte, „na, das wär’ ja ein Fest. Da will ich sehen, dass ich mich ein bisschen frisch halte.“ „Meine Mama hat dafür eine Creme“, fällt ihm ein. Der Bus kommt. „Heute darfst du oben Plätze für uns suchen“, sagt Juliens Mutter entschieden, schiebt ihren Sohn voran. „Vergiss mich nicht, Julian“, ruft die Alte, sich mühsam erhebend.

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