
© Kitty Kleist-Heinrich
Migrationshintergrund: Eine Frage des Verstehens
Noch immer gibt es in Berlin zu wenige Polizisten mit Migrationshintergrund. Die Beamtin aus Neukölln ist eine davon.
Ihre besonderen Kenntnisse halfen Lale Toka schon während der Ausbildung bei einer Personenkontrolle: Ein Verdächtiger warf seinen Freunden eine Jacke zu und sagte auf Türkisch: „Fahrt den Wagen weg, der Schlüssel ist in der Innentasche.“ Was er nicht wusste: Die zierliche, junge Polizistin hatte jedes Wort verstanden. Die Beamten nahmen den Wagenschlüssel an sich und, Bingo, fanden im Kofferraum Drogen. „Drogenfälle haben wir im Alltag aber nicht allzu oft“, sagt die Polizeiobermeisterin heute.
Öfter passiere es, dass ein Mann zu den Beamten auf Deutsch sagt: „Ich schlage meine Frau nicht“ – und auf Türkisch die Frau anknurrt: „Wenn du denen was erzählst, schlag ich dich zu Brei!“ Die 31-jährige Polizistin kann gar nicht sagen, wie oft sie in 13 Berufsjahren solche Situationen schon erlebt hat, aber fest steht: Ihre Muttersprache ist bei der Arbeit sehr hilfreich.
An diesem Tag hat Lale Toka Streifendienst. Eigentlich heißt sie anders, aber um ihre Arbeit nicht zu erschweren, steht sie lieber mit Pseudonym in der Zeitung. Es ist kalt heute und nicht viel los. Sie und ihr Kollege warten auf einen Abschleppwagen. Ein Opel Astra muss sichergestellt werden, weil eine Fensterscheibe eingeschlagen und der Besitzer nicht auffindbar ist. Fast eine Stunde lang warten sie in der Neuköllner Okerstraße auf den Abschleppwagen. Aus dem Wettbüro gegenüber kommt breitbeinig ein Türke mit Schnurrbart und Zigarette im Mund gelaufen. „Nehmen Sie, bitte“, sagt er und bietet den Beamten Schokolade an. „Ich bringe Ihnen auch heißen Tee, soll ich?“ Die Beamtin winkt ab: „Vielen Dank, aber nein.“ Die Polizisten dürfen nichts annehmen.
Die Arbeit im Abschnitt 55 der Polizeidirektion 5 in Nordneukölln bringt immer wieder solche netten Begegnungen mit sich, dennoch ist sie überwiegend hart. In Tokas Arbeitsbereich geht es selten so gemütlich zu wie an diesem Tag. Im Funkwagen kommen Einsätze in schneller Folge, sagt sie, bis zu 20 in einer Nacht. Ihr Abschnitt im Rollbergviertel wird von Politikern als „Pulverfass“ und „potenzielles Ghetto“ bezeichnet. Im Verwaltungsjargon ist es ein „Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf“ oder – weniger politisch korrekt ausgedrückt – ein sozialer Brennpunkt. Ob Einwanderer oder Urberliner, knapp drei Viertel der Kinder hier leben in Haushalten, die Sozialhilfe beziehen. Gewalt und Kriminalität aus Langeweile gehören zum Alltag.
Auf der Internetseite der Polizeidirektion 5 heißt es: „Hier lebt die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei.“ Auch wenn das wohl übertrieben ist – über die Hälfte der Bewohner stammt tatsächlich aus Einwandererfamilien. Mitarbeiter mit Türkischkenntnissen sind für die Polizei daher ein Segen. Von den 16 000 Berliner Polizisten haben nur knapp 300 einen sogenannten Migrationshintergrund. Damit es mehr werden, wirbt die Behörde unter anderem in türkischen Zeitungen, kooperiert mit Ethnovereinen und bietet Schnupperpraktika für Realschüler an. Mit Erfolg: Inzwischen hat jeder zehnte Nachwuchspolizist einen Migrationshintergrund. Und es ist dem Polizeipräsidenten ein besonderes Anliegen, dass ihre Zahl steigt. Seit 2010 hat die Polizei daher ein neues Auswahlverfahren für Azubis, bei dem interkulturelle Kompetenzen stärker berücksichtigt werden.
Während ihrer Ausbildung 1994 gab es unter den Polizeischülern neben Lale Toka nur wenige Kinder von türkischen Gastarbeitern. Danach wollte sie in Schöneberg arbeiten, doch sie wurde „nach Neukölln verfrachtet“, sagt sie. Inzwischen stört das die junge Mutter aus Steglitz nicht mehr. Im Gegenteil: Sie hat sich mit den Kollegen, dem Viertel und seinen Bewohnern gut angefreundet. Ein ruhiger Arbeitsplatz komme für sie nicht mehr infrage. „Hier ist immer was los, von Kleinkriminalität bis zu größeren Delikten.“
Die meiste Zeit spricht die junge Polizistin mit den dunkel geschminkten Augen und den langen, lackierten Nägeln während der Arbeit Deutsch. Türkisch setzt sie nur gezielt ein, das wirkt manchmal deeskalierend in angespannten Situationen. Vor allem provozierende männliche Teenager machen ihren Kollegen oft das Leben schwer, sagt sie. Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen kann, fordert sie solche Jungs auf Türkisch auf, sich zu beruhigen. „Das überrascht und lenkt sie ab“, sagt sie. „Die Jugendlichen fühlen sich von der Polizei oft nicht verstanden.“
Ihr Chef ist froh, dass er inzwischen drei türkischstämmige Mitarbeiter hat. Sie verhindern regelmäßig Missverständnisse. „Wenn türkisch sprechende Mitbürger sehr aufgeregt auf dem Abschnitt erscheinen, denken wir manchmal, es geht um Mord und Totschlag“, sagt der Hauptkommissar. Dann stelle sich dank Kollegen wie Toka heraus: Es handelt sich um eine viel banalere Angelegenheit, etwa einen Streit mit dem Vermieter.
Allerdings gibt es auch Situationen, die tatsächlich dramatisch sind oder sogar tragisch enden. Lale Toka kann sich an einen Ehrenmord erinnern, auch wurde vor drei Jahren einer ihrer Kollegen erschossen, und vor nicht allzu langer Zeit wurde einer mit einem Messer bedroht. „Das ist aber keineswegs Alltag“, sagt sie. Übersetzen dagegen ist Alltag – nicht nur die Aussagen, auch Gestik und Mimik muss die Beamtin ihren Kollegen oft erklären. Auch muss sie einschätzen, wie schlimm eine dramatisch geschilderte Situation tatsächlich ist. „Wir Türken sind eben temperamentvoller“, sagt sie, „da wird schon mal übertrieben.“
Ferda Ataman