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Reinickendorf: Freiheit für den Kopf

Günter Grass ging ins Tegeler Gefängnis – für eine Lesung vor Inhaftierten. Charmant respektvoll und zugewandt nahm Grass sich Zeit, zeigte Aquarelle, las kurze Verse und aus den autobiografischen Erinnerungen.

Die Justizvollzugsanstalt Tegel hat literarische Tradition: Zu Beginn von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ verlässt die Hauptfigur das Gefängnis. Literaturnobelpreisträger Günter Grass trat am Donnerstag den umgekehrten Weg an – rein in die JVA. Allerdings nur für einen Nachmittag: Er las für die Inhaftierten.

Welcher Raum, mitten im Knast, eignet sich für eine Lesung? Die Veranstalter entschieden sich für die Kirche, in der nicht alles daran erinnert, dass das Publikum den Ort des Geschehens nicht einfach wieder verlassen kann. „Ich nehme an, dass die Türen abgeschlossen sind“, sagte Grass dennoch in Richtung Hörerschaft, darunter auch geladene Gäste wie Justizsenatorin Gisela von der Aue. „Deshalb begrüße ich Sie als meine lieben Mitgefangenen.“

Charmant respektvoll und zugewandt nahm Grass sich Zeit, zeigte Aquarelle, las kurze Verse und aus den autobiografischen Erinnerungen „Beim Häuten der Zwiebel“. Die Themen, die im gelesenen Kapitel in der Nazizeit eine Rolle spielten, haben trotz des anderen politischen Systems für die Häftlinge hier tägliche Bedeutung - Befehl und Gehorsam, Macht und Ohnmacht, falscher Glaube und falsche Ideologien.

Kultur hat in Tegel Tradition: Seit mehr als zehn Jahren besteht etwa die Theatergruppe „AufBruch“, die dieses Jahr Stücke von Bertolt Brecht und Heiner Müller zeigte. Auch Grass selbst hat 1967 schon einmal in Tegel gelesen. Damals sei er mit den Häftlingen schnell ins Gespräch gekommen, sagte er, und auch diesmal nutzten die Insassen die Gelegenheit zu fragen. Wegen der schlechten Akustik mussten sie die Fragen von den hinteren Kirchenbänken nach vorne brüllen, aber einen Sinn fürs Groteske hat Grass ja ohnehin.

Die Kriegsgefangenschaft oder auch Grass’ Verhältnis zur SPD interessierten. Er werde sich in der Uckermark, einer Region, aus der alle jungen Menschen wegzögen, im Wahlkampf engagieren, sagte er. Für Grass öffnete sich die Schleuse nach draußen bald wieder, das Publikum blieb. Freiheit für den Kopf, wenn auch nur für ein paar Stunden.pth

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