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Ein Schild weist auf das Landgericht Berlin an der Fassade zum Kriminalgericht Moabit in der Turmstraße hin.

© dpa/Jens Kalaene

Gericht rollt Neukölln-Komplex neu auf: Prozess zu rechtsextremen Anschlägen startet belastet

Am Berliner Landgericht startet der Berufungsprozess gegen zwei Neonazis nach einer Anschlagsserie. Doch der Streit um Ermittlungsakten belastet das Verfahren.

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Der am Donnerstag beginnende Berufungsprozess zur mutmaßlich rechtsextremistischen Anschlagsserie von Neukölln wird überschattet. Das Verfahren vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts wird belastet, weil der Verfassungsgerichtshof immer noch nicht über den Eil-Antrag des Neukölln-Untersuchungsausschusses entschieden hat. Der Ausschuss verlangt von der Kammer die Herausgabe der Prozess- und Ermittlungsakten, das lehnte das Gericht wegen grundlegender Rechtsstaatsprinzipien ab.

Verantworten müssen sich die beiden angeklagten Neonazis Tilo P. und Sebastian T. – beide waren vor mehr als eineinhalb Jahren vom Amtsgericht Tiergarten aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der Brandstiftung gegen Autos zweier politischer Gegner freigesprochen worden. Die Generalstaatsanwaltschaft legte Berufung ein und wirft dem Amtsgericht in ihrer Berufung vor, die Indizien nur nicht richtig zusammengesetzt zu haben.

Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, auf Ticket der Grünen ins Amt gehoben und wenige Jahre vor der Pension, nimmt den Fall sogar persönlich. In internen Grußschreiben zum Jahreswechsel 2022/23 hatte sie den Freispruch als „das enttäuschende Ende dieser Verhandlung“ bezeichnet. Und: „Hoffentlich hört die zweite Instanz mehr zu und geht mehr in die Tiefe als die erste.“ Als das publik wurde, löste das einige Verstimmungen aufseiten des Amtsgerichts aus.

Die Generalstaatsanwaltschaft glaubt fest daran, dass T. und P. Anfang 2018 die Autos des Linken-Politikers Ferat Koçak und eines Buchhändlers in Brand gesetzt haben. Die Taten gelten als Höhepunkt einer Reihe von mehr als 70 rechtsextremen Straftaten seit 2013. Bislang sind ab Donnerstag 14 Verhandlungstage bis Ende November angesetzt.

Schöffe soll Verbindungen zur Rosa-Luxemburg-Stiftung haben

Mehrfach hatte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Vasili Franco, die Vorsitzende der Staatsschutzkammer angeschrieben und die Akten zum Fall der angeklagten Brandanschläge erbeten. Doch die Vorsitzende Richterin Susann Wettley lehnte ab.

Wettley ist eine erfahrene Karrierejuristin, war einst Staatsanwältin im Bereich Organisierte Kriminalität und Clan-Kriminelle sowie Chefin einer Task-Force gegen Geldwäsche. Generalstaatsanwaltschaft und Verteidiger teilten ihre Ansicht.

Eine funktionierende Strafjustiz und eine durch ungestörte und von außen nicht beeinflusste Verhandlung habe Verfassungsrang, zumal die Unschuldsvermutung gilt – als Ausfluss der im ersten Artikel des Grundgesetzes verankerten Menschenwürde. Der Ausschuss könne die Akten frühestens nach Ende der Beweisaufnahme bekommen, hieß es.

Gericht, Staatsanwaltschaft und Anwälte misstrauen dem Ausschuss

Zudem misstrauen Gericht, Generalstaatsanwaltschaft und Anwälte dem Ausschuss – trotz dessen Beteuerungen, die Akten vertraulich zu behandeln. Das Gericht befürchtet Lecks, dann könnten bislang nicht öffentliche Details aus den Akten publik und Zeugen beeinflusst werden, das könnte den Prozess behindern.

Der Ausschuss klagt nun aber vor dem Verfassungsgerichtshof gegen das Landgericht auf Herausgabe aller Akten zum Prozess und zu den Ermittlungen. Wann dieser entscheidet, ist noch nicht absehbar. Eine Sprecherin erklärte: „Das Verfahren befindet sich in der Sachbearbeitung und der Beteiligung.“

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Der Anwalt Gregor Samimi, wegen des langen Prozesses zweiter Pflichtverteidiger von Sebastian T., immerhin Mitglied im Präsidium und Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin, beantragte beim Verfassungsgerichtshof Akteneinsicht. Doch auch darüber ist bis jetzt noch nicht einmal befunden worden.

Wenn die Verfassungsrichter die Akteneinsicht ablehnen, müssten die Verteidiger prüfen, ob damit die Grundrechte ihrer Mandanten eingeschränkt werden, sagte Anwalt Röder. „Einschränkungen von Grundrechten sind keine Kavaliersdelikte und können zur Deformation des Verfassungsbewusstseins führen – besonders in Anbetracht der jüngsten Wahlergebnisse in Ostdeutschland.“

Anschlagsopfer Koçak meldet sich zu Wort

Auch Koçak meldete sich vor Prozessbeginn zu Wort. Er äußerte Zweifel an Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz. Koçak ist Nebenkläger in dem Prozess, legte aber selbst keine Berufung ein, bis zur Wahl 2021 war er sogar Mitglied des Untersuchungsausschusses.

Es ist ein Skandal, dass der Fokus der Ermittlungsbehörden nach wie vor auf einzelnen Tätern liegt, während rechte Netzwerke in Neukölln weiterhin ihr Unwesen treiben.

Ferat Koçak (Linke), Anschlagsopfer und Nebenkläger

Er kritisierte nun, dass die Serie rechtsextremer Straftaten „seit Jahren ohne Konsequenzen“ bleibe. Ermittlungserfolge blieben aus, den Behörden warf er Desinteresse an einer ernsthaften Aufklärung vor. Betroffene der Anschlagsserie wie er forderten die Freigabe aller relevanten Akten für den Untersuchungsausschuss, sagte er.

„Es ist ein Skandal, dass der Fokus der Ermittlungsbehörden nach wie vor auf einzelnen Tätern liegt, während rechte Netzwerke in Neukölln weiterhin ihr Unwesen treiben“, sagte Koçak. „Die wenigen Verfahren, die es gab, scheiterten an mangelnder Transparenz und verweigerten Aussagegenehmigungen. Diese Praxis schützt die Täter und erschüttert das Vertrauen in den Rechtsstaat.“

Zudem erneuert der Linke-Politiker den Verdacht, dass V-Leute des Verfassungsschutzes in den Neukölln-Komplex verwickelt sein könnten. In erster Instanz waren Beweisanträge seiner Anwältin dazu abgebügelt worden, auch die Generalstaatsanwaltschaft hatte keinen Grund gesehen, dem nachzugehen.

„Die Betroffenen wollen endlich Antworten und Klarheit darüber, ob und in welchem Umfang Sicherheitsbehörden selbst Teil des Problems sind und ob V-Personen in diesen rechtsextremistischen Strukturen agiert haben“, sagte der Neuköllner. „Die Erfüllung der Forderung aller Betroffenen nach der Freigabe der relevanten Akten ist notwendig, um die Aufklärung durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss transparent voranzubringen.“

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