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Die Angst bleibt: Viele Frauen leiden oft Jahre lang an den Folgen von Gewalt.

© dpa

Justiz im Zwielicht: Gewalttäter quälte Frauen – und blieb auf freiem Fuß

Thomas Sch. hatte bereits einen Menschen getötet. Auch nach seiner Haftentlassung schlug er immer wieder zu. Polizei und Justiz schritten lange nicht ein - erst nach mehr als zwei Jahren wird ihm der Prozess gemacht. Zu spät für die Opfer.

Von Sandra Dassler

Am Freitag hat sie ihn das erste Mal wieder gesehen – auf der Anklagebank im Saal 504 des Moabiter Kriminalgerichts. Bei ihrer letzten Begegnung hat er sie fast totgeschlagen. Das war im November 2010, und Ruzena S. ist wie viele im Gerichtssaal überzeugt, dass die meisten angeklagten Taten nicht passiert wären, wenn Polizei und Justiz richtig gehandelt hätten.

Dann wäre der 40-jährige Thomas Sch. gar nicht dazu gekommen, mehr als ein halbes Dutzend Frauen zu verletzen oder zu vergewaltigen: unter anderem im Mai, im Juni, im August und im September 2011 – obwohl er laut Staatsanwaltschaft bereits Ende 2009 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden war – auf Bewährung. Erst ein halbes Jahr zuvor, im Mai 2009, war Sch. aus der Haft entlassen worden, wo er zehn Jahre zugebracht hatte, weil er eine Frau totgeschlagen und andere schwer verletzt hatte.

Ruzena S. wurde von Sch. am 14. November 2010 angegriffen. Sie kannte den seriös wirkenden Mann – selbst auf der Anklagebank trug er Schlips – von früher, hatte ihn auf seine Bitte in einen Klub begleitet, wollte aber dann nach Hause. Er aber nicht und so lief er ihr nach, riss sie von hinten zu Boden, schlug sie. Sie rief die Polizei. Vier Beamte, sagt sie, hätten sie und Sch. befragt und die Personalien aufgenommen. Sch. habe sie und die Polizisten nicht nur vulgär beschimpft, sondern ihr gedroht, dass sie das bitter bereuen werde. Ruzena S. hatte Angst, wollte nicht allein weggehen, wurde aber von einem Polizisten dazu aufgefordert. Sie bat, den Täter wenigstens so lange aufzuhalten, bis sie in Sicherheit sei, doch Sch. holte sie am U-Bahnhof Gneisenaustraße ein. „Er riss mich an den Haaren, dann warf er mich auf den Boden... Mit einer Hand würgte er mich, mit der anderen Faust schlug er auf meine linke Gesichtshälfte, immer und immer wieder... ich hatte Todesangst.“

Irgendwie hatte die gelernte Krankenschwester zuvor noch einen Notruf absetzen können, dieselben Beamten kamen wieder. Der Täter flüchtete, Ruzena S. musste mit schweren Gesichtsverletzungen ins Krankenhaus, wurde zweimal operiert. Von der Polizei, sagt sie, habe sie lediglich die Empfehlung erhalten, sich beim Amtsgericht eine Einstweilige Gewaltschutzanordnung zu holen und sich ein Pfefferspray zu besorgen. Der Täter blieb frei.

Ruzena S. erhielt auf ihre Strafanzeige im November 2010 nur die Nachricht, dass die Ermittlungen wegen Körperverletzung eingestellt wurden, weil der Täter eine andere Strafe zu erwarten haben und ihre Sache nicht ins Gewicht falle. Tatsächlich wurde Sch. wenig später verurteilt: zu 80 Tagessätzen zu je 15 Euro wegen Diebstahls bei Karstadt im Wert von 69 Euro.

Für Ruzena S. brach eine Welt zusammen. Sie ging zu einer Rechtsanwältin, die Akteneinsicht verlangte und zuerst nicht glauben wollte, was sie daraus erfuhr: Sch. hatte nicht nur wegen Totschlags im Gefängnis gesessen, sondern auch dort Straftaten, darunter Körperverletzung begangen. Deshalb stellte ihn der Richter bei seiner Entlassung unter Führungsaufsicht – für fünf Jahre. Damit war die Auflage verbunden, sich monatlich beim Bewährungshelfer zu melden. Dieser führte mehrere Gespräche, wobei ihm laut Justiz „keine Anzeichen für neue schwere Straftaten auffielen“. Warum der Helfer offenbar weder von Polizei, Staatsanwaltschaft noch Gericht über eine der Taten, die Sch. zwischen 2009 und 2011 beging, informiert wurde, kann bei der Justiz niemand erklären.

Auch dass die Polizisten den unter Bewährung stehenden Mann nicht spätestens nach dem zweifachen Angriff auf Ruzena S. festnahmen, dass kein Staatsanwalt U-Haft beantragte und kein Richter diese anordnete, schockiert selbst gestandene Polizisten und Juristen. „Da ist alles schief gelaufen, was man sich nur vorstellen kann“, heißt es aus Polizeikreisen. Offiziell weist man die Vorwürfe zurück. Man habe Sch. nach dem ersten Übergriff auf Ruzena S. doch noch zehn Minuten festgehalten, wird argumentiert.

Während Ruzena S. und ihre Anwältin gegen die Einstellung des Verfahrens klagten, beging Sch. weitere Körperverletzungen. Erst als dazu 2011 noch zwei Vergewaltigungen kamen, verhängte eine Richterin endlich Untersuchungshaft – zwei Jahre nach dem zur Bewährung ausgesetzten Urteil. Zwei Jahre, in denen wahrscheinlich noch mehr Frauen leiden mussten, als Anzeige erstatteten. Denn Sch. suchte sich seine Opfer oft unter Prostituierten, die der HIV-Infizierte auch brutal zu ungeschütztem Sex zwang.

Das Urteil gegen ihn wird im Mai erwartet.

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