zum Hauptinhalt
Auf die Liste gesetzt. Die syrische Familie G. aus Qamischli ist Anfang Dezember nach Berlin gekommen, geflohen vor dem Bürgerkrieg, in dem sie als aramäische Christen zwischen alle Fronten geraten sind.

© Doris Spiekermann-Klaas

Syrische Flüchtlinge in Berlin: Gibt es Hoffnung? Ich glaube, ja!

Die Familie konnte sich retten aus dem kriegsumtosten Syrien. Dort wurden sie als Christen verfolgt, hier in Berlin feiern sie nun Weihnachten. Eine Begegnung zum Fest des Lebens.

Der Wind, der verdammte Wind pfeift in den Fensterritzen. Er zerrt an den Bäumen und treibt den Regen vor sich her. Dieser verdammte Wind. Er fegt durch das Leben einer fünfköpfigen Familie, die in einem leer stehenden Hinterhaus auf Matratzen schläft. Das Gebäude gehört der katholischen Kirche, es soll renoviert werden. Der Innenhof ist bereits ein aufgewühltes Erdloch. Ihre Koffer haben die G.s in einem kahlen Raum zusammengeschoben und ein weißes Laken darübergebreitet. Ein Tisch, vier Stühle. Einer zu wenig.

Am Ende wird es vielleicht wieder kommen, wie es Europa schon einmal erlebt hat. Es wird diejenigen geben, die rechtzeitig fliehen vor der Gewalt. Es wird diejenigen geben, die es nicht mehr schaffen. Und ein paar wenige wird es geben, die trotzdem überleben. Von Ersteren, den Klugen und Weitsichtigen, redet dann kaum einer mehr. Die Toten werden alles verfinstern.

Toni G., der Sportlehrer aus Qamischli, ist ein schlauer Mann. Als Mossul, die Millionenstadt im Norden Iraks, im Sommer von den Kalifatkämpfern des „Islamischen Staates“ (IS) erobert wurde, sah er voraus, was ihm und seiner Familie blühen würde. Sie sind syrische Christen, Aramäer. Er zählt die Optionen an vier Fingern seiner Hand ab. – Bleiben und zum Islam konvertieren. – Bleiben und Kopfsteuer entrichten, der ganze eigene Besitz würde verloren sein. – Weggehen mit dem, was sie am Leib tragen. – Bleiben und sterben. Jeder Finger, den Toni in seine Handfläche zurückzieht, ist eine Antwort, die er nicht aussprechen muss. Nichts davon kam für ihn infrage. Aber wie flieht man mit der Familie?

Die aus Syrien zu Tausenden nach Europa zu entkommen versuchen, sind meistens allein. Einer von ihnen, Imad, auch ein aramäischer Christ, sitzt am vergangenen Freitag nach dem Gottesdienst zwischen Tonis Familie und versucht, möglichst unsichtbar zu sein. Der Blick geht ins Leere, während er wartet, dass sich die Gesellschaft zerstreut. Ihm, dem Juwelier aus Zabadani bei Damaskus, hat das Leben einen üblen Streich gespielt. So sieht er das.

Seine Frau und die beiden Söhne sind zurückgeblieben. Ihm ist nicht gelungen, was Toni und den Seinen glückte.

Die Flucht aus Kobane

Tonis Glück ist sein Schwager in Deutschland. Der heißt Isaak und lebt mit Tonis Schwester seit vielen Jahren in Berlin. Als Isaak vor einem Jahr von dem zweiten Kontingent für Syrienflüchtlinge erfährt, mit dem abermals 5000 Betroffene einreisen dürfen, lässt er Toni, den Bruder seiner Frau, auf eine Liste setzen. Das im Dezember 2013 beschlossene Programm ist vor allem Menschen mit Verwandtschaft in Deutschland zugedacht. Die könne die Flüchtlinge bei sich unterbringen, so die Hoffnung der Länder, weitere Notunterkünfte würden nicht benötigt. Isaak füllt das Formular aus, wirft es in den Briefkasten.

Als er Wochen später anruft, um zu fragen, ob sie das Formular überhaupt erhalten haben, kann er nicht mal ausreden.

„Haben die Kinder?“ – „Ja.“ – „Sie bekommen eine Antwort.“

Mit der Belagerung Kobanes fürchtet Familie G.: Uns läuft die Zeit davon. Würde Kobane an die IS-Extremisten fallen, wäre Qamischli ihr nächstes Ziel. Die Kinder gingen nun nie mehr allein zur Schule, immer begleitet von den Eltern. Sie mauerten die Hofeinfahrt zu und schafften sich einen Lkw-Motor als Generator an. Der dröhnte Tag und Nacht und belieferte 110 Wohnungen des Viertels mit Strom, während in Qamischli die Söhne wohlhabender Bürger verschwanden. Ein Tankstellenbesitzer musste angeblich einen Millionenbetrag an die Erpresser entrichten. Der Vater eines Richters wurde entführt. Wären sie auch bald dran?

Die Stadt war von einem Ring an IS-Posten umlagert. Die schwarzen Krieger erhoben Zölle für alles, was hinein- oder hinausgelangte. Deshalb, so glaubt Toni G. heute, hatten sie die Stadt nicht angegriffen. Sie ließen sie ausbluten. Während er sagt, dass der Krieg die Menschen um sie herum zu verrohen und ihre Wertmaßstäbe zu verschieben begann, hört seine elfjährige Tochter still und gespannt zu, das Kinn auf die Faust gelegt. Ihre Eltern reden zum ersten Mal in ihrer Gegenwart von der Bedrohung. Obwohl auch sie das Geräusch der Raketen kennt, die vereinzelt in der Stadt niedergingen.

Als christliche Minderheit hatten sie unter dem Assad-Regime Schutz genossen. Existenzielle Ängste kannten die G.s nicht. Sicher, sagt Toni, die Korruption sei ein Ärgernis gewesen. Aber solange man sich nicht auflehnte, taten einem die Sicherheitsdienste nichts. Die IS-Truppen malen nun das arabische N an die Türen der Christen. N für Nazarener. Man müsse gar nichts tun, um trotzdem umgebracht zu werden.

Mitte März zerriss eine Autobombe den Verwaltungssitz der Stadt. Ein dumpfer Knall. Die Druckwelle ließ die Fensterscheiben zittern. Wenigstens einmal pro Woche rief Toni bei seinem Schwager Isaak an. „Gibt es Hoffnung?“ – „Warten. Ich glaube, ja.“

Schleuser, Papiere und Grenzpolizisten

Unter den vielen auf der Flucht sind die Kontingentflüchtlinge aus Syrien eine privilegierte Gruppe. 20 000 Syrern ist eine vereinfachte Einreise mit Visum gestattet. Welchen Unterschied doch Papiere machen. Nämlich den, dass der eine ohne Papiere sich alleine durchschlagen und Schleuser bezahlen muss, während die Familie zwar alles verliert, aber wenigstens nicht sich.

Auf ihren Smartphones zeigen die G.s, was sie zurückgelassen haben. Einen großen Flachbildschirm. Sofagarnitur und Einbauküche. Die Töchter trauern um den Hasen. Ein schönes, weißes Tier. Sie machten, weil es plötzlich sehr schnell gehen musste, einfach die Wohnungstür hinter sich zu, den Schlüssel gaben sie Verwandten. Den Hasen auch.

Die deutsche Botschaft in Beirut hatte ihre Papiere. So flogen sie von Qamischli nach Damaskus, mit dem Auto ging es weiter über die eigentlich geschlossene Grenze in den Libanon. Am ersten Tag des Weihnachtskalenders trafen sie in Berlin ein. Seitdem öffnete sich jeden Tag eine Tür in irgendeine Amtsstube. Die Eltern haben sich zu einem Sprachkurs angemeldet, die Kinder sollen Schulen und die Kita besuchen. Was ihnen nur noch fehlt, sagen sie, ist eine eigene Wohnung.

Warum kamen Sie nach Deutschland?

Die G.s zählen in Syrien zur bürgerlichen Mittelschicht. „Nichts kam uns teuer vor“, sagt die Frau, eine Lehrerin, die Grundschülern Englisch beibrachte. Es hier zu sprechen, traut sich die 36-Jährige allerdings nicht. It was just words, sagt sie. Es seien ja nur Worte gewesen, um Konversation sei es nie gegangen. Ihr Mann, 40 Jahre alt, mit leicht ergrautem Haar, der einen rot verblichenen Kapuzensweater mit VfB-Stuttgart-Emblem trägt, strahlt die Zuversicht eines Menschen aus, der schnell kapiert, schnell handelt und selbst bei Niederlagen aufmunternd lächelt. In seiner Heimat trainierte er die Basketball-Auswahl der Provinz. Zweimal hintereinander habe sie die Meisterschaft gewonnen.

Bei der Frage, ob er seine Mannschaft jetzt im Stich gelassen habe, zieht Toni die Stirn in Falten. Es sei eine schwierige Abwägung gewesen, sagt er. Das Wohl seiner Kinder aufrechnen gegen das der anderen. Andererseits seien sechs seiner früheren Spieler bereits in Deutschland.

Auch Imad hat abgewogen, und sein Gesicht verrät, dass er nicht sicher ist, ob das Ergebnis richtig ist. Als er maskierten Männern in die Hände fiel, die ihn verschleppten, da erkannte er einen als seinen Nachbarn wieder. Der Juwelier war in Zabadani das Ziel derjenigen geworden, die ihren Krieg finanzieren mussten. Eine Million Lira verlangten sie. Er hatte das Geld. Kein Problem. Seinem Bruder wurde der Bauch mit Stromkabeln verschmort, um weiteres Geld herauszupressen. Da sagte seine Frau, dass er vorgehen solle, um sich in Europa eine Existenz aufzubauen. Sie und die Kinder kämen nach. Juweliere würden auch dort benötigt. Etwa nicht?

Als deutsche Polizisten Imad kurz hinter der österreichischen Grenze aufgriffen, sagten sie, er sei nur des Geldes wegen gekommen. Oder etwa nicht? 3500 Euro hatte er dem Schlepper für die Überfahrt nach Griechenland bezahlt, weitere 2500 Euro für den Transfer nach Bayern. Und da redeten sie von Geld! Imad schnauft durch die Nase. Und er sagt: „Ich war die ganze Zeit voller Ängste. Wie hätte ich das mit Familie bewerkstelligen sollen? Es war der einzige Weg. Wenn es ein Weg ist.“

Das jüngste Kind der G.s ist eingeschlafen. Es wird von Toni hinausgetragen in die Kälte, wo der Wind, der verdammte …

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false