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So soll das neue Stadtviertel in Lichterfelde-Süd aussehen. Das einstige Kriegsgefangenenlager befindet sich auf dem Areal rechts.

© Simulation: Archimation, Groth Gruppe

Großbauprojekt in Lichterfelde-Süd: "Das Lager soll als öffentlicher Gedenkort erhalten bleiben"

Eine Bürgerinitiative kämpft für einen Gedenkort auf dem Neubaugebiet in Lichterfelde. Dort befand sich ein Kriegsgefangenen-Stammlager der Nazis. Finanzieren soll es der Investor.

Non, je ne regrette rien? Nein, ich bedaure nichts. Dieses Lied, eines der berühmtesten Chansons der französischen Sängerin Edith Piaf, hat Thomas Schleissing-Niggemann schon immer gefallen. Heute mehr denn je, seit er weiß, dass die Piaf 1940 Patin des Stalags III D in Lichterfelde-Süd geworden war – eines Kriegsgefangenen-Stammlagers, im militärischen Jargon „Stalag“ genannt. In Lichterfelde hat sie im Lager für die Gefangenen gesungen. Dort waren ständig bis zu 2600 Menschen, vor allem französische Soldaten, eingeschlossen. Und: Piaf nutzte diese Auftritte, um mithilfe ihrer Sekretärin Andrée Bigard, die sich im französischen Widerstand engagierte, einigen Gefangenen zur Flucht zu verhelfen. Wie sie das schafften?

Sie bestachen Wachmannschaften mit Alkohol und Zigaretten, nahmen Fotos der Gefangenen auf und notierten deren Adressen. Zurück in Frankreich, ließen sie falsche Papiere ausstellen, mit denen die Flucht aus Deutschland möglich war.

Schleissing-Niggemann ist Vorsitzender der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde. Zusammen mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und dem Aktionsbündnis Lichterfelde-Süd setzen sie sich dafür ein, dass das Areal des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Stalag III D an Landweg und Osdorfer Straße zumindest teilweise unter Denkmalschutz gestellt wird und ein historischer Lern- und Erinnerungsort entsteht.

„Es soll ein öffentlicher Gedenk- und Lernort erhalten bleiben“

„Zwangsarbeit hat viele Abstufungen“, sagt Schleissing-Niggemann. Von Kriegsgefangenenlagern über Lager für zivile Zwangsarbeiter bis zu KZ-Lagern wie dem Außenlager Lichterfelde in der Wismarer Straße am Teltowkanal, nach dem die Initiative benannt ist. In Berlin gab es zwei sogenannte Stammlager für Kriegsgefangene: In Lichterfelde-Süd und Falkensee. Von dort aus wurden Arbeitstrupps der Inhaftierten zu Einsätzen in die Stadt oder ins Umland geschickt.

Was treibt die Initiative an? „Die Zeitzeugen gehen uns aus“, heißt es. Aber die Aufarbeitung der Geschichte des Lagers stehe noch am Anfang. Das Ziel: „Es soll ein öffentlicher Gedenk- und Lernort erhalten bleiben“. Einen Antrag dafür will die Initiative in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) einbringen, zurzeit werden dafür Unterschriften gesammelt. Ein authentisches Gebäude würde als Gedenkort ja ausreichen, sagt Schleissing-Niggemann. „Am besten wäre es, wenn der Investor des neuen Wohngebietes, die Groth-Gruppe, dieses finanziert.“

Rund 2500 Wohnungen will die Immobiliengruppe Groth auf einem riesengroßen Areal in Lichterfelde-Süd bauen – siehe Artikel rechts. Häuser sollen auch auf dem Gelände des ehemaligen Stalags III D entstehen sowie auf einem Grundstück der früheren Reichsbahn, auf dem Gefangene arbeiten mussten. Einige frühere Wohn- und Krankenbaracken sowie Fundamente von Wachtürmen sind noch vorhanden. „Das sind einzigartige geschichtliche Zeugnisse“, sagt der zuständige Experte im Landesdenkmalamt, Bernhard Kohlenbach. Seine Behörde ließ in den vergangenen Monaten ein Gutachten zu den erhaltenen Gebäuden des Lagers anfertigen, das von 1940 bis 1945 bestand. Das Ergebnis der Expertise fasst Kohlenbach so zusammen: „Es handelt sich tatsächlich um ein authentisches Kriegsgefangenen-Stammlager.“

Historische Bauten erhalten heißt weniger Wohnraum bauen

Seine Behörde hält die verbliebenen Reste deshalb für schutzwürdig. Doch was letztlich bleibt, ist noch Verhandlungssache. „Darüber sprechen wir zur- zeit intensiv mit dem Bezirk und der Groth-Gruppe im Hinblick auf den noch nicht fertiggestellten Bebauungsplan“, sagt Kohlenbach. Die Verhandlungen seien schwierig, die bisherige städtebauliche Planung für das Gebiet habe eventuelle Denkmalschutzaspekte überhaupt nicht berücksichtigt. Konkret heißt das: Auf dem Gelände der Baracken sind längst Neubauten geplant. Folglich heißt es bei der Groth-Gruppe: „Bleiben historische Bauten stehen, so bedeutet das eben weniger Wohnraum“.

Eines der denkmalwürdigen Häuser hält der Initiativen-Sprecher Schleissing-Niggemann für besonders authentisch: die Kantine. Diese gehörte zwar nicht zum Kriegsgefangenenlager, sondern zu einem benachbarten Zwangsarbeitslager der Reichsbahn. Am Ort der Kantine soll allerdings im Zuge der Bebauung eine Schule entstehen. Ein Problem? „Man könnte ja auch einen Teil des alten Gebäudes in das neue integrieren“, sagt Schleissing-Niggemann. Als Beispiel nennt er die Clay-Schule in Rudow. Auch dort befand sich ein NS-Zwangsarbeitslager. Im neuen Schulhaus, das gerade entsteht, soll an die Zwangsarbeiter erinnert werden, indem ein sichtbarer Teil des historischen Gebäudes integriert wird.

Historische Bauten. Eine der Baracken des einstigen Stammlagers.
Historische Bauten. Eine der Baracken des einstigen Stammlagers.

© Thilo Rückeis

In den Haupt- oder Stammlagern in Lichterfelde-Süd und Falkensee sowie in etlichen kleineren Lagern in Berlin wurden bis zu 58.000 Menschen zeitgleich gefangen gehalten. „Die meisten Internierten waren ab 1940 Franzosen“, sagt Schleissing-Niggemann. Aber auch Briten, Italiener und Sowjets wurden zur Arbeit gezwungen. Besonders grausam gingen die Schergen mit den sowjetischen Soldaten um. Stalin hatte das „Genfer Abkommen“ von 1929 nicht unterzeichnet. Dieses legte die Behandlung von Kriegsgefangenen fest – bezüglich des Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit, Ernährung und Umgang. So sah sich die Wehrmacht gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangen in keinster Weise in der Pflicht.

Ähnlich erging es den italienischen Gefangenen. Nach der Landung der Alliierten in Sizilien und dem Kriegsaustritt des bisherigen Verbündeten Italien wurde den gefangenen Italienern der Status von Kriegsgefangenen verweigert. Sie wurden als Verräter behandelt und waren mit 29.000 Menschen ab 1943 die größte Gefangenengruppe im Lager.

Die Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde hat 20 Mitglieder und ist ambitioniert: Sie plant eine App über das Außenlager Sachsenhausen in Berlin. Eine weitere App soll über den Nationalsozialismus in Steglitz-Zehlendorf -informieren. „Wir beschäftigen uns mit den Opfern in den Lagern, mit den Tätern wie Reinhard Heydrich, der in Lankwitz gewohnt hat, sowie mit den Widerstandskämpfern“, sagt Schleissing-Niggemann. Aber auch mit den Profiteuren des Regimes wie Industriebetrieben. „ Zwangsarbeit war präsenter, als man denkt." Die Initiative im Internet: www.ikz-lichterfelde.de

Anna Ehlebracht

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