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 Am Hermannplatz errichtete Karstadt 1927-29 ein Warenhaus (Architekt Ph. Schaefer).

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Hauptstadt, Metropole, Zankapfel der Weltpolitik: Nicht unterzukriegen

Jens Bisky erzählt die Geschichte Berlins in all ihren Wendungen und Brüchen.

Vor genau 100 Jahren wurde Berlin mit zahllosen Umlandgemeinden zu Groß-Berlin vereint und hat, von kleinen Korrekturen abgesehen, seine geografische Gestalt seither bewahrt. Was indessen wie in einem Strudel durcheinandergestürzt ist, ist die Geschichte der Stadt, die politische wie die soziale oder die urbanistische. Noch 50 Jahre früher war Berlin zur Reichshauptstadt aufgestiegen, und für diese gesamten, nunmehr anderthalb Jahrhunderte gilt, dass die Berliner Geschichte zugleich die deutsche Geschichte ist.

Es muss dem Berliner Journalisten Jens Bisky als eine verlockende wie verschreckende Aufgabe erschienen sein, die ganze Geschichte Berlins seit dessen Heraustreten aus bloß regionaler Bedeutung im 17. Jahrhundert unter dem Großen Kurfürsten darzustellen, und jedenfalls hat er sie mit seinem 1000-Seiten-Opus „Berlin. Biographie einer großen Stadt“ bewältigt. So umfassend auch (bei kleinen Auslassungen) das Literaturverzeichnis im Anhang ist, findet sich da kein Buch vergleichbaren Zuschnitts, an dem Bisky sich messen konnte und messen lassen müsste.

Weder Feuilleton noch Faktenhuberei

Auch wenn Bisky sein Buch als „Biographie“ bezeichnet, hält er zwischen der Scylla des Feuilletons und der Charybdis der Faktenhuberei bemerkenswert sicher Kurs. Als Stilmittel dienen ihm eingestreute Zeitzeugenberichte und erhellende Episoden, die eine Epoche und ihren Charakter anschaulich machen. Das ist nicht neu, hat sich vielmehr in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung als Hilfsmittel leichterer Lesbarkeit durchgesetzt; aber Bisky bedient sich seiner zurückhaltend genug, um nicht im Anekdotischen zu landen. 900 Seiten reiner Text sind viel und doch kaum genug, um dem Gang der Geschichte zu folgen.

Preußische Architekturgeschichte

„Seinen Aufstieg in die Liga der großen europäischen Hauptstädte verdankt Berlin nicht eigener wirtschaftlicher und politischer Kraft, sondern dem dynastischen Ehrgeiz der Hohenzollern (...)“, urteilt Bisky aus der Perspektive des frühen 19. Jahrhunderts mit den Stein-Hardenbergschen Reformen. Vielleicht seine besten Kapitel bietet Bisky für die darauffolgenden Jahrzehnte auf. Die Verschränkung von Technik- und Sozialgeschichte, die der aus kleinstem Beginn mächtig aufstrebenden Industrie und des mit ihr einhergehenden, grassierenden Elends und die Verbindung beider mit der politischen Geschichte des Ringens zwischen Feudalsystem und Bürgertum um Macht und Gestaltung, hat man wohl nie zuvor so engagiert und zugleich mit kühler Distanz gelesen wie hier. Da erweist sich, dass Bisky ein intimer Kenner der preußischen Architektur- und Ästhetikgeschichte ist, der schon seine Dissertation gewidmet war. Aber es ist eben gerade die Kehrseite der hochfliegenden Ideale eines Schinkel mit den Miets-Bruchbuden eines gewissen Baron Wülcknitz, die erst die eigentümliche Dynamik Berlins vor den gemeinhin erst auf die Kaiserzeit datierten Wachstumsschmerzen plastisch macht.

Die besten Jahre

Für die besagten anderthalb Jahrhunderte ab der Reichsgründung kämpft Bisky mit der Flut der Spezialliteratur, die sich schier unüberblickbar angehäuft hat. Was über die Großstadt der Jahrhundertwende von 1900 zu sagen ist, haben schon Georg Simmel und Walter Rathenau in mächtigen Strichen gezeichnet und etwas später Walter Benjamin oder Franz Hessel feinziseliert. Es bleibt das Urteil, dass dies die beste Zeit Berlins war, gemessen an den Möglichkeiten einer greifbaren Zukunft, die 1914 zertreten wurde. Die Zukunft, die in den vermeintlich „Goldenen Zwanzigern“ aufglitzerte, war demgegenüber schemenhaft und oft nur der blanken Not geschuldet, man denke an die Hoffnungen des sozialen Wohnungsbaus und, übergreifend, der Gesundheit der ganzen Gesellschaft. Auch das schildert Bisky präzise, etwa auf den Seiten über Stadtbaurat Martin Wagner, dessen Verdienste um den Wohnungsneubau er würdigt, ohne sein Scheitern an der Kommunalpolitik zu verschweigen. Für die kulturelle Blüte Berlins in den 1920ern prägt Bisky das schöne Wort „Weltaugenblick“, und man versteht eine ganze Ära.

...und die "braunen"

Dem Absturz Berlins in die braune Barbarei kann er demgegenüber wenig hinzufügen, was nicht schon in anderen Untersuchungen dargelegt worden wäre. Vielleicht war die Last der Literaturverarbeitung irgendwann doch zu groß, so imponierend der Fußnotenapparat auch ausfällt. Für das Inferno des letzten Kriegsjahres, von Goebbels’ Sportpalastrede bis zur Erstürmung der Reichskanzlei, vertraut Bisky ein wenig überreich auf Augenzeugenberichte. Doch dann heißt es lapidar: „Ein Zurück in irgendeinen Vorkriegszustand war unmöglich.“

Auf die Sicht der Jahrzehnte seit 1945 durfte man bei einem Autor, der in der DDR aufgewachsen ist und es in deren Armee immerhin zum Leutnant gebracht hat, besonders gespannt sein. Der Leser wird nicht enttäuscht: Der kenntnisreichen, nie apologetischen Innensicht der Verhältnisse erst unter Ulbricht und dann unter Honecker folgt man mit Bewunderung. Die Schilderung der Konfusion und kalten Wut nach dem überraschenden Mauerbau des 13. August 1961 folgt dem herkömmlichen Muster. Doch so furchtbar dieser Einschnitt für die Bewohner beider Stadthälften auch war, er markierte weltpolitisch eben nicht den Gipfel der Berlin-Krise, sondern deren wohlkalkuliertes Einhegen nach Chruschtschows Berlin-Ultimaten von 1958/59. Wenn irgendwo, mangelt es hier am Adlerflug der politischen Analyse, um sich über die Berliner Befindlichkeiten zu erheben.

Mauerbau und Mauerfall - Momente der Weltgeschichte

Vollends im 90 Seiten langen Schlussteil über den Mauerfall und die Zeit bis heute hat Bisky mit den im Zweifelsfall anderen Erinnerungen und Verklärungen seines Publikums zu kämpfen. Dagegen hilft nur äußerste Disziplin, und gerade in diesem Teil seines Buches ist das Vermögen des Autors, Atmosphäre lebendig werden zu lassen und sie dennoch nicht für das Ganze auszugeben, besonders eindrucksvoll. Was Berlin damals so vollständig durchschüttelte, war wiederum welthistorisch doch nur ein, wenn auch besonders bizarres Teilstück im größeren Puzzle der zerstiebenden Blockteilung von Ost und West. Dass Bisky die jüngste Geschichte seit der Jahrtausendwende eher als Spickzettel von Einzelereignissen abhakt, ist wohl unvermeidlich – noch ist der Abstand zu kurz, das tausendfach verbreitete Bild der ach so coolen Metropole kritisch zu durchdringen.

Aber das sind, alles in allem, Petitessen angesichts des eindrucksvollen Panoramas, das Jens Bisky entfaltet. „Wer die Geschichte der Stadt Revue passieren lässt, muss die jetzt an der Spree Lebenden für Glückskinder halten“, schließt Bisky sein Buch. Er hätte es treffender noch mit dem Titel des 1946 im Hebbeltheater gezeigten, damals vielgespielten Stücks von Thornton Wilder sagen können: „Wir sind noch einmal davongekommen“.

Jens Bisky: Berlin. Biographie einer großen Stadt. Rowohlt Berlin 2019. 976 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 38 Euro.

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