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Einmalige Anlaufstelle. Jörg Schuh (links) und Thomas Schlingmann engagieren sich für den Verein „Tauwetter“.

© Thilo Rückeis

Spendenaktion: Hilfe für die ersten Schritte

Die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule haben das Thema sexuellen Missbrauch in den Mittelpunkt gerückt. Der Verein "Tauwetter" berät Männer, die Opfer geworden sind.

Das Eis schmilzt oft mit Mitte 30: So alt sind die meisten Männer, die sich dazu überwinden, eine Mail an den Verein „Tauwetter“ zu schreiben. Oder den Mitarbeitern auf den Anrufbeantworter zu sprechen.

Der Verein mit dem Namen, der im Moment so gut zur Witterung passt, berät Männer ab 16 Jahren, die in ihrer Jugend Opfer von sexualisierter Gewalt, körperlicher Misshandlung oder psychischer Gewalt gewesen sind. „Es gibt aber auch Anrufer, die sind 17 oder 70 Jahre alt “, sagt Thomas Schlingmann. Gemeinsam mit anderen hat er den deutschlandweit einmaligen Verein 1995 gegründet, aus einer Selbsthilfegruppe heraus. Als Junge ist er von seinem Vater missbraucht worden.

Schlingmann und der Geschäftsführer Jörg Schuh sind auf Minijob-Basis einige Stunden in der Woche für den Verein tätig, die anderen Helfer arbeiten ausschließlich ehrenamtlich. Ihre Missbrauchserfahrungen haben sie alle aufgearbeitet – und geben nun weiter, was sie gelernt haben: zum Beispiel, wie man einen guten Therapeuten findet. Thomas Schlingmann sitzt dienstags und donnerstags in den schönen Altbauräumen des Vereins im Kreuzberger Mehringhof und berät am Telefon. Außerdem bietet er persönliche und Emailberatungen an. Zudem betreibt „Tauwetter“ vier Selbsthilfegruppen: für Betroffene und Angehörige.

Das Jahr 2010 war für den Verein sozusagen ein Jahr der großen Schmelze: „Die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule haben das Thema in den Mittelpunkt gerückt“, sagt Jörg Schuh. Mit konkreten Auswirkungen für den Verein: „Unsere Anfragen haben sich verdoppelt.“ Insgesamt sind 2010 rund 500 Anfragen bei Tauwetter eingegangen. „300 davon kamen von konkret Betroffenen“, sagt Schlingmann. Der Rest der Anfragen stamme von Angehörigen, Bekannten oder Partnern.

Der Berliner Senat unterstützt den Selbsthilfebereich von „Tauwetter“ mit 7000 Euro im Jahr – für Sachkosten. Um die Flut an Anfragen auch weiterhin bewältigen zu können, bittet der Verein die Tagesspiegel-Leser dringend um Spenden: für die Miete, Büro- und Infomaterial und die Telefonkosten.

Die Männer, die Schlingmann, der sich zum Traumafachberater weitergebildet hat, schließlich gegenübersitzen, gehen mit ihrer Situation ganz unterschiedlich um. Manche können in Worte fassen, was ihnen passiert ist, und lassen sich darüber informieren, wie sie nun weiter vorgehen können. Andere haben ein bestimmtes Gefühl, sind aber nicht fähig, dieses in Worte fassen. „Dann dauert es häufig einige Sitzungen, bis sie benennen können, was ihnen passiert ist“, sagt Thomas Schlingmann. Er selbst hat sich mit Anfang 30 mit seiner eigenen Missbrauchsgeschichte auseinandergesetzt – damals stolperte er sozusagen über Verhaltensweisen, die ihn an sich selber störten: „Ich habe meine Partnerinnen durch mein Verhalten immer wieder dazu gebracht, dass sie mich verlassen.“ Weil er keine Nähe ertragen konnte. Für den sexuellen Missbrauch habe er damals lange nicht diesen Begriff benutzt. „Und mir war auch nicht klar, was dieser Missbrauch für mich bedeutet hat.“ Belastend findet Schlingmann seine Beratungstätigkeit nicht: „Wir unterstützen die Männer bei ihre ersten Schritten“, sagt er zufrieden. Einige kommen nach den Gesprächen in eine der Selbsthilfegruppen, suchen sich auch einen Therapeuten. Manche verarbeiten es auch alleine. „Wir kriegen aber auch Mails, in denen uns Männer erzählen, dass sie nach einem oder zwei Jahren etwas unternommen haben.“

Jörg Schuh erinnert sich noch heute an den grinsenden Arzt, von dem er eine Überweisung zum Therapeuten brauchte. Und der nicht glauben konnte, dass auch Jungs sexuell missbraucht werden. „Unser Angebot ist wichtig“, sagt er. „Und das mediale Auftreten von Menschen, die missbraucht wurden und trotzdem etwas im Leben erreicht haben, macht heutigen Betroffenen Mut, sich schon mit 20 an uns zu wenden.“ Jetzt hofft der Verein auf die Großzügigkeit der Tagesspiegel-Leser, um seine wichtige Arbeit fortsetzen zu können.

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