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Karneval in Berlin: Hoch auf dem rot-gelben Wagen

Die Bonbons fliegen übers Geländer, die Sonne scheint, nur das Biereingießen ist schwierig – es schaukelt zu sehr. Eine Karnevalsfahrt mit der Steglitzer Stadtgarde.

„Brrr, verdammt kalt!“ Vera (49), von Beruf Kita-Erzieherin, Sonntag früh aber voll im Karnevalseinsatz, reibt sich die Hände. Handschuhe eingesteckt? „Nee, damit kannste keene Kamellen werfen.“ Blick auf die Uhr, 11.22 Uhr, gleich geht ein Ruck durch diesen knapp zwei Kilometer langen Karnevalszug, dessen mehr als 60 Wagen, Musik-, Kostüm- und Tanzgruppen sich Sonntagmorgen an der Hardenbergstraße vorm Bahnhof Zoo alle ordentlich hintereinander aufgereiht haben. Vera wippt sich ganz vorne an der Zugspitze warm, am Wagen der Steglitzer „Stadtgarde Rot-Gold Berlin“. Rock und Schminke in den Vereinsfarben, Straußenfeder am Musketierhut. „Ahu, ahu, Afrika!“ singt die Band „Höhner“. Dann die Durchsage: „In zwei Minuten Wagenbesetzung. Bitte pünktlich jeder an seinen Platz.“

Rund 40 Rot-Gold-Gardisten, eingefleischte Karnevalisten mittleren Jahrgangs, drängeln durch den Aufgang zur rollenden Plattform. Countdown. Sie zählen im Chor. Der Wagen ruckt an. „Berlin, heijo! Karneval an der Spree, olé, olé, olé!“ Die Besatzung hakt sich ein, schunkelt, der Wagen schaukelt. Detlev hat große Mühe, die erste Runde Bier sauber in die Plastikbecher einzuschenken. Auch die Sonne meint es diesmal wieder gut mit dem Umzug in der Hauptstadt und dessen mehr als 2500 Mitwirkenden. Nur das Publikum kommt noch nicht so recht in Fahrt.

Aber das stört hier keinen. Die Gute-Laune-Macher sind „generalstabsmäßig“ vorbereitet. Alleine die Steglitzer Stadtgarde hat tausende Wurftütchen Popcorn und hunderte Kamellenkisten an Bord geschleppt. Der Nachschub lagert griffbereit unter dem langen Tisch in der Wagenmitte. Und an beiden Längsseiten des girlandengeschmückten Gefährts haben sie mindestens 40 Holzkästen anmontiert – für die „Wurfmunition“. Ein Namensschild klebt an jedem Kasten, damit jeder weiß, wo im Trubel sein Platz ist. Rechts in Fahrtrichtung, wo man in der Regel näher am Publikum steht: Eva, Monika, Petra, also die Damengarde. „Weil die schicker aussehen“, erklärt Martin. Er selbst steht links bei den Männern. Detlev, Peter, Thomas …

Der Wagen rollt jetzt unter der S-Bahnbrücke hindurch zum Breitscheidplatz. „Ich hab’ ’ne Zwiebel auf’m Kopf, ich bin ein Döner“, schmettert der singende Kölner Friseurmeister Tim Toupet aus den Boxen. Stimmung kommt auf. Berliner Schulter an Schulter in Sonntagslaune, bis weit hinter dem Wasserklops. Rote Clownsnasen, Blumenhütchen, Ritter, Indianer, Gespenster. Vor allem die Kinder sind kostümiert, die Älteren meist nur dick eingemummelt. Von einer Million Zuschauern sprechen die Veranstalter, einige hunderttausend sind es allemal.

Vera und Monika schaufeln Nachschub in ihre Wurfkästen. Blicken auf umgekehrte Regenschirme, Hüte, aufgezerrte Plastiktüten, die ihnen die Kinder entgegenhalten. Beide holen weit aus, lassen Bonbons regnen, immer dort, wo sich die Kleineren drängen. Eine Zauberfee, vielleicht fünf Jahre alt, mit spitzem blauen Hut, blickt zu Vera hinauf. Mit großen Augen. Voller Hoffnung. Vera zielt, trifft genau in die Hände. Das trainiert sie hier erstmals, weil sie erst seit vergangenem November bei der Garde mitmacht. Groß geworden in Berlin, hat sie zur Rosenmontagszeit immer neidisch ins Rheinland geguckt. „Weil mir Verkleiden und Mal-ganz-anders-Sein Spaß macht“, sagt sie. Jetzt hat Vera die Berliner Jecken entdeckt und weiß, dass sich „heijo“ aus „Heiterkeit“ und „Jokus“ zusammensetzt. Monika ist dagegen seit 1986 bei der Garde aktiv. Der Verein ist für sie ihr „zweites Zuhause, auch außerhalb der Narrenzeit“. Und „ganz doll happy“ ist sie, dass es mit dem Berliner Karneval seit 2001 aufwärts geht.

Das ist auch Rolf Vietings Verdienst. Auf erhöhtem Ausguck steht der Zugmarschall auf dem Rot-Gold-Wagen, ein Urgestein des Vereins mit rotem Schlips. Telefoniert mobil, ruft Anweisungen, sorgt dafür, dass alles bei diesem närrischen Unternehmen wie am Schnürchen klappt. Das macht der 63-jährige Kaufmann nun schon zum zehnten Male, seit die Berliner Karnevalisten 1991 erstmals wieder einen Umzug zustande brachten. Der letzte war zuvor 1959 durch West-Berlin gerollt. Doch Vieting glaubte fest ans „närrische Potenzial“ in der preußischen Seele. Das hätten die Berliner ja schon im 17. Jahrhundert bewiesen, meint er. Damals trieben sie so heftig Mummenschanz, dass dieses Vergnügen wohl wegen der guten Sitten verboten wurde.

Seit 2001 kamen jedes Mal mehr Zuschauer. Es zahlte sich aus, dass die Berliner ihren Umzug diesmal außer Konkurrenz eine Woche vor dem Rosenmontag starteten. Großeinsatz deshalb am Kurfürstendamm. Rappelvoll die Bürgersteige. Peter (52), von Beruf Schausteller, auf dem Wagen Nachschubmann, reißt Kartons auf, greift in die Berge der Popcorntüten, eilt hin und her und füllt die Wurfkästen. „Heut’ ist so ein schöner Tag“ singt Tim Toupet. Die Fernsehkameras fahren am langen Schwenkarm über die Kamellenwerfer hinweg. Die Mannschaft schunkelt so heftig, dass der Wagen beinahe in Resonanz gerät. Das Publikum jubelt. Und die Polizisten freuen sich: „Endlich mal ’ne schön friedliche Demo.“

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