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Berlin: Johannesstift: Schläge waren Alltag

Studie zu Heimerziehung in der Nachkriegszeit

Es gab Ohrfeigen und Schläge mit dem Rohrstock. Auch im Evangelischen Johannesstift in Spandau gehörte die körperliche Züchtigung von Heimkindern noch bis in die 1960er Jahre zum Alltag – obwohl sie in Berlin offiziell bereits seit 1948 verboten war. Das geht aus einer Studie zur „Heimerziehung in den Jahren 1945-1970 im Evangelischen Johannesstift“ hervor, deren Ergebnisse das 1858 gegründete Diakoniewerk am Dienstag veröffentlichte. Und während das weitläufige Stiftsgelände am Spandauer Forst für viele Berliner heute als Inbegriff der Idylle gilt, heißt es in der Studie, in den Akten sei dokumentiert, dass fast jeder fünfte ehemalige Bewohner der Heime Ulmenhof, Birkenhof, Jungborn und Heidenborn in seiner Zeit im Johannesstift wenigstens einmal geschlagen wurde. So wie es in der frühen Bundesrepublik in den meisten Kinderheimen Alltag war.

„Die Gründung des Runden Tisches Heimkinder 2009 war für uns ein Anlass, unsere Vergangenheit zu erforschen“, sagt Wolfgang Kern, Sprecher des Johannesstifts. So wie sich das Stift in der Vergangenheit schon mit der Zwangsarbeit in der NS-Zeit und der Euthanasie an Stiftsbewohnern auseinandersetzte, seien nun die Erziehungsmethoden der Nachkriegszeit anhand der Heimakten untersucht worden. Außerdem stehe man mit derzeit fünf Bewohnern von damals im Kontakt. „Mit großer Betroffenheit und aufrichtigem Bedauern stellen wir fest, dass auch in unseren Heimen in den 1950er und 60er Jahren Unrecht geschehen ist“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von Stiftsvorsteher Pfarrer Martin von Essen und dem kaufmännischen Vorstand Andreas Arentzen. Die körperlichen Strafen hätte es auch nach damaligem Recht nicht geben dürfen. Zwar sei es „in der überwiegenden Mehrzahl“ nicht zu „schwereren körperlichen Verletzungen“ gekommen, aber selbst scheinbar „leichtere Züchtigungen“ könnten „zu seelischen Verletzungen führen“. Der Stiftsvorstand bitte dafür um Verzeihung. Künftig wolle sich das Johannesstift an dem vom Runden Tisch angeregten Entschädigungsfonds beteiligen, in den Kirchen, Länder und Bund insgesamt 120 Millionen Euro einzahlen sollen. Außerdem biete man ehemaligen Heimkindern Gespräche, therapeutische und seelsorgerliche Begleitung an.

„Das ist alles noch viel zu wenig“, sagt dagegen Dirk Friedrich, der Sprecher des Vereins ehemaliger Heimkinder (VeH). „Aus anderen Heimen wissen wir, dass nicht jede Tracht Prügel in den Akten erfasst wurde.“ Mit Sicherheit sei es auch im Johannesstift schlimmer zugegangen, als es in den Akten dokumentiert sei. Der VeH setzt sich für eine Aufarbeitung durch unabhängige Historiker ein. Den vom Runden Tisch vorgeschlagenen Entschädigungsfonds, in den auch das Johannesstift einzahlen will, lehnt der Verein dagegen weiter ab – und fordert eine Opferrente von bis zu 300 Euro im Monat. Auch für ehemalige Heimkinder des Johannesstifts. Benjamin Lassiwe

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