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Berlin: Junge Muslime werden immer religiöser

Soziologen und Schulleiter sehen auffällige Entwicklungen, die eine Integration erschweren und für Mädchen verheerend sind

Recep geht in die Hector-Peterson-Oberschule in Kreuzberg und vier Mal die Woche in eine Koranschule. Der 16-Jährige Muslim versucht, die Gebote des Koran streng einzuhalten: fünf Mal am Tag beten, fasten während des Ramadan, keinen Alkohol trinken. In die Diskotheken, „wo Alkohol im Spiel ist“, geht er nicht, aber jeden Freitag in die nahe Moschee. Dass Frauen als Jungfrauen in die Ehe zu gehen haben, ist für ihn genauso selbstverständlich wie für seine Mitschülerin, die 17-jährige Meryem.

Sie trägt seit der vierten Klasse Kopftuch, betet ebenfalls fünf Mal am Tag und geht während der Fastenzeit täglich in die Moschee. „Das Kopftuch ist dazu da, sich in der Öffentlichkeit zu bedecken und Männer nicht auf schlimme Gedanken zu bringen“, sagt Recep ernst. Und er glaubt, was er sagt.

Die beiden Schüler sind für Dietmar Pagel längst keine Ausnahme mehr. Der Schulleiter der Hector-Peterson-Schule beobachtet, dass die muslimischen Jugendlichen in den vergangenen fünf bis acht Jahren immer religiöser geworden sind. Von den 490 Schülern seiner Kreuzberger Schule sind drei viertel Muslime. Heute tragen vier von 20 Schülerinnen einer jeden Klasse Kopftuch, während es vor rund zehn Jahren vier an der ganzen Schule waren, erinnert sich der Direktor.

Damals sei die Teilnahme der Mädchen am Schwimmunterricht und bei Klassenfahrten kein Thema für die Eltern gewesen, heute würden viele schon bei der Anmeldung der Kinder danach fragen. Heute fasten auch alle türkischen Schüler, die keine Aleviten sind, während des Ramadan und „reihenweise“ würden die Mädchen vor Hunger umkippen.

Auch habe sich verändert, wie die muslimischen Schüler und ihre Eltern mit den „ungläubigen“ christlichen Lehrern umgehen. „Das verstehen Sie ja doch nicht, bekomme er immer wieder zu hören“, sagt Pagel, auch seien die Kinder nicht bereit, über die Grundsätze des Islam zu diskutieren.

1997 hat die damalige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John türkische Jugendliche befragt und herausgefunden, „dass nicht mehr religiöse Einstellungen das Alltagsleben bestimmen, sondern die vielen Wahlmöglichkeiten in der Freizeitgestaltung in einer modernen Wohlstandsgesellschaft“.

Drei Jahre später ergab eine Umfrage, dass 20 Prozent der Schüler eine Koranschule besuchen. Die Hamburger Soziologin Necla Kelek, die seit zehn Jahren muslimische Jugendliche in Berlin und Hamburg befragt, schätzt, dass heute mindestens die Hälfte der Jugendlichen in die Koranschule geht. Die Hoffnung von Politikern, dass sich die Muslime in Deutschland im Zuge der Integration immer weiter säkularisieren, ist nicht in Erfüllung gegangen, im Gegenteil: Die rund 100000 muslimischen Jugendlichen, die heute in Berlin leben, sind religiöser als je eine Generation zuvor.

Pagels Erfahrungen teilen Soziologen und andere Schulleiter in Kreuzberg und Neukölln, wo die Mehrheit der Muslime lebt. Gerhard Rähme, Schulleiter der Carl-von-Ossietzky-Oberschule, sieht einen Zusammenhang zwischen der Zunahme der Religiosität seiner Schüler und sozialen Problemen: „Die Generation zuvor hat noch Arbeit an der verlängerten Werkbank gefunden. Diese Jobs gibt es nicht mehr.“ Für die Frustrierten stifte der Koran eine neue Identität und stärke das Bewusstsein, anders zu sein – und zwar besser als die „Ungläubigen“. Die Frustrationen beginnen nicht erst bei der Suche einer Arbeit. Vergangenes Jahr verließen 40 Prozent der muslimischen Jugendlichen die Schule ohne Abschluss.

Die Schüler hätten ein sehr reduziertes Verständnis vom Islam, sagt Gerhard Rähme. Es laufe auf die Unterordnung der Frauen, die Unterordnung des Staates unter die Scharia und eine sehr wortwörtliche Übersetzung des Koran hinaus. Der so verstandene Islam sei ein echtes Integrationshindernis, sagt die Hamburger Soziologin Necla Kelek, die selbst als Tochter türkischer Einwanderer aufgewachsen ist.

Für immer mehr muslimische Eltern in Berlin stehe die religiöse Erziehung ihrer Kinder stark im Vordergrund. „Sie schicken sie auf Koranschulen und verhindern dadurch , dass sie in Deutschland ankommen.“

Denn die Koranschulen, so Kelek, seien vor allem dazu da, den Kindern die Unterwerfung unter Allah beizubringen. Gerade für Mädchen sei das verheerend: Denn der Familienvater und in weiterer Folge die anderen männlichen Familienmitglieder würden als Stellvertreter Allahs gelten und mit Hinweis auf den Koran Gehorsam einfordern. Die Religion diene als Argument für eine undemokratische Erziehung, die keine Eigenverantwortung der Kinder zulasse und es den Eltern erlaube, die Töchter unter Zwang zu verheiraten und den Söhnen einen fatalen Begriff von Ehre beizubringen. Dazu gehöre auch, dass ein Junge sich und die eigene Familie verteidigen muss, notfalls mit Gewalt.

Auch den 16-jährigen Recep haben die Eltern zur Religion und zur Koranschule gebracht. „Aber sie überlassen es mir, ob ich weitermache.“ Zwangsehen und „extreme Familienmitglieder“ seien unter den Türken die Ausnahme, meint er. „Hauptsache, die Frauen gehen als Jungfrauen in die Ehe und bringen keine Schande über die Familie.“

Klar ist für ihn auch, dass für gläubige Muslime der Glauben an erster Stelle steht. „Allah ist das Wichtigste, dann erst kommen die Nation und der Staat.“ Und wenn man die Gebote nicht befolge, werde irgendwann die Strafe dafür kommen.

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