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Paul Friedel spricht am Mittwochmorgen vor den Journalistinnen und Journalisten.

© Christoph Soeder/dpa

Konzept vorgestellt: Initiative „Volksentscheid Berlin autofrei“ will Innenstadtverkehr umkrempeln

Eine neue Initiative will Berlins Straßen weitgehend vom motorisierten Verkehr befreien. Wie das gehen soll? Nicht ohne drastische Eingriffe.

Mit dem Lastenrad vom Platz der Luftbrücke zum Halleschen Tor, sechs Spuren autofrei, ein paar Fußgänger, Skater. Vielleicht ein einzelner E-Laster, der überholt, um den nahegelegenen Dönerladen zu beliefern – die Initiative „Volksentscheid Berlin autofrei“ will dieses Szenario Wirklichkeit werden lassen.

Doch der öffentliche Raum ist umkämpftes Gebiet. Das zeigt sich bereits bei der Pressekonferenz, zu der die Initiative am Mittwochmorgen auf der – eigentlich – autofreien Friedrichstraße geladen hat: Als ein Mitglied der Initiative die Anwesenden begrüßt, wird die Ansprache vom lauten Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Lasters unterbrochen.

„Ziel ist ein Gesetz, das ungefähr zwei Drittel des Autoverkehrs aus den Stadtteilen innerhalb des S-Bahn-Rings verbannt“, sagt Sprecherin Anne Gläser. „Per Volksentscheid sollen alle Berlinerinnen und Berliner über die Zukunft des Verkehrs entscheiden.“

Öffentliche Straßen seien heute hauptsächlich dem motorisierten Verkehr vorbehalten. Dabei würden nur knapp die Hälfte der Berliner Haushalte ein Auto besitzen, innerhalb des S-Bahn-Rings sogar deutlich weniger.

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Das Vorhaben erinnert an den „Volksentscheid Fahrrad“, mit dem seit 2016 für die Verkehrswende in Berlin gekämpft wird. Nur, dass gleich ganz deutlich gemacht wird: „Wir sind nicht alle fahrradbegeistert, wir sind eine bunt zusammengewürfelte Gruppe.“ Einige würden gerne zu Fuß gehen, andere lieber den öffentlichen Nahverkehr nutzen, manche würden innerhalb – andere außerhalb des Berliner S-Bahn-Rings wohnen.

Doch alle wollen sie: mehr Platz auf den Straßen, Orte zum Verweilen und bessere Luft. „Niemand soll mehr aus der Stadt fliehen müssen“, sagt Gläser.

Ludwig Lindner, Julia Brennauer und Paul Friedel (v. l. n.) stehen auf der (eigentlich) autofreien Friedrichstraße.
Ludwig Lindner, Julia Brennauer und Paul Friedel (v. l. n.) stehen auf der (eigentlich) autofreien Friedrichstraße.

© Joana Nietfeld

Berlin solle lebenswerter, gesünder und klimagerechter werden, fordert die Gruppe, die sich ehrenamtlich und unparteilich vor einem Jahr gegründet hat. Etwa 15 Personen treffen sich wöchentlich zum Plenum. An diesem Mittwoch startet die Kampagne und die Webseite geht online.

„Grundsätzlich braucht der motorisierte Individualverkehr dann eine Erlaubnis, um zu fahren“, sagt Sprecherin Gläser. Dafür brauche es triftige Gründe. Der öffentliche Verkehr wie Müllabfuhr, Feuerwehr oder der private Wirtschafts- und Lieferverkehr seien davon ausgenommen – ebenso wie mobilitätseingeschränkte Menschen.

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Stellt sich die Frage, was mit all jenen ist, die es sich nicht ausgesucht haben, außerhalb des S-Bahn-Rings zu wohnen – die von teuren Mieten an den Stadtrand gedrängt wurden. Die alleinerziehende Mutter zum Beispiel, die täglich von Adlershof ins Büro nach Mitte fährt und auf dem Weg ihre Tochter in die Kita bringt. Müsste sie das Auto in Neukölln abstellen und dann in die U-Bahn umsteigen, um zur Arbeit zu gelangen?

Einer der Sprecher sagt, er halte nicht viel von diesen Einzelfallbeispielen, ein anderer, dass es Härtefallregelungen geben werde, wie die dann genau aussähen, das müsse man im Detail sehen. Genügend Vorbereitungszeit und eine schnellere Taktung der öffentlichen Verkehrsmittel sollen jedenfalls helfen, um Autos größtenteils verzichtbar zu machen. Auch E-Autos, denn die bräuchten Platz, seien in Unfälle verwickelt und „produzieren über Reifenabrieb Feinstaub“, sagt Gläser. Zudem sei offen, inwieweit ihre Klimabilanz positiv sei.

Erste Veränderungen würden erst in vier Jahren kommen

Für die nächsten Schritte steht ein genauer Zeitplan bereits fest. Jurist Paul Friedel, ebenfalls Mitglied der Gruppe, erläutert: „Bis September 2021 soll das Volksbegehren eingeleitet werden. Bis dahin sammeln wir 20.000 Unterschriften.“

Danach folge die Zulässigkeitsprüfung durch das Berliner Abgeordnetenhaus. Sollte sich das Abgeordnetenhaus das Anliegen nicht zu eigen machen, werde 2022 das Volksbegehren folgen. Kämen dabei die erforderlichen 175.000 Unterschriften zusammen, wäre ein Volksentscheid 2023 der letzte Schritt. „Das heißt vier Jahre passiert jetzt erst mal nichts Spürbares“, sagt Friedel. Doch danach hoffe die Gruppe auf grundlegende Veränderungen.

Dabei verändert sich derzeit schon etwas Grundlegendes: Eine „Moovit“-Untersuchung zeigt, dass die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs seit Beginn der Coronakrise deutlich gesunken ist. In Berlin ging sie um etwa ein Viertel zurück. Stattdessen seien mehr Strecken mit dem Fahrrad, Roller und zu Fuß bewältigt worden.

Doch 40 Prozent der Befragten kündigten auch an, wieder öfter das Auto nehmen zu wollen. Als Grund dafür seien vor allem Sicherheitserwägungen genannt worden – im Auto lassen sich Kontakte zu Mitmenschen leichter vermeiden.

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