Berlin: Letzte Ruhestörung
Vor der früheren US-Botschaft entsteht ein Park. Doch zuvor suchen Archäologen nach den Toten, die einst hier begraben wurden
Leichtes Schaudern beim Blick durch den Bauzaun in den Abgrund: Knapp einen Meter entfernt liegt das Skelett eines Menschen, mitten in der Stadt. Neben den braunen, gut erhaltenen Knochen und dem Schädel, an dem auch der Laie bemerkt, dass ein Besuch beim Zahnarzt dringend erforderlich gewesen wäre, liegt ein weiteres Skelett in den zerfasernden Resten eines Holzsargs.
Tag für Tag werden auf dem Parkplatz gegenüber der früheren US-Botschaft in der Neustädtischen Kirchstraße Leichen gesucht und gefunden. „Etwa 90 bisher“, sagt Uwe Müller, „vielleicht werden es am Ende um die 200 sein.“ Der Archäologe ist mit seiner Firma Archäo Kontrakt dabei, die Berliner Geschichte zu erkunden – im Wettlauf mit der Zeit. Denn ab September entsteht für 400 000 Euro ein kleiner Park. Der besteht aus einer angehobenen Rasenfläche, die von zwei Wegen unterteilt und mit Beton und Naturstein eingefasst wird. Rasenböschungen, 49 Bäume und hoffentlich auch ein paar Bänke gehören dazu, und der Platz wird wieder Neustädtischer Kirchplatz heißen. Denn hier stand ein Gotteshaus: 1687 wurde die damalige Dorotheenstädtische Kirche als zehntes Gotteshaus in Berlin und als erster protestantischer Kirchenbau eingeweiht. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts baute man die Kirche in spätklassizistischer Form um, im November 1943 erlitt das Gebäude mit dem spitzen Turm schwere Bombenschäden, 1965 wurde die Ruine beseitigt, nur noch der Name „Neustädtische Kirchstraße“ erinnerte daran, dass hier einst mehr war als ein profaner Parkplatz.
Dessen Betondecke ist abgeräumt, Sand türmt sich, gemauerte Brunnen liegen frei, weiß strahlt das Fundament des Turms aus Rüdersdorfer Kalkstein. Ursprünglich hieß die Siedlung ringsum Neustadt, die Kirche Neustädtische Kirche. Sie wurde dann zu Ehren der Kurfürstin Dorothea umbenannt in Dorotheenstadt. Demnächst also wieder „Neustädtischer Kirchplatz“, die Dorotheenstraße verläuft gleich nebenan. Auf einer Tafel am Rand der künftigen Grünanlage soll die Geschichte des Platzes erzählt werden.
Das jüngste Kapitel schreiben Uwe Müller und seine Archäologen-Crew: Die Toten liegen rund um die Kirche in mehreren Lagen übereinander, nicht so tief wie üblich, die oberen nur ungefähr 50 Zentimeter unter der Geländeoberfläche.
Das liegt an Schwankungen des Wasserspiegels; einer merkwürdigen Bodenchemie ist ein verhältnismäßig guter Erhaltungsgrad zuzuschreiben. An Grabbeigaben für die letzte Reise fand man bisher nur eine Tonpfeife am Schädel im Sarg, ansonsten Manschettenknöpfe, Uniformteile, Litzen und Reste von „Totenkronen“, die Unverheirateten aufgesetzt oder auf den Sarg gelegt wurden. Da sie Kupferblättchen enthielten, bildeten sich am Schädel grüne Flecken. Auch Knöpfe oder Stecknadeln hinterlassen ihre Spuren. Am Petri-Kirchhof wurden wertvollere Dinge gefunden, denn dort wohnten einst die reicheren Berliner.
Und welche Spuren hinterlassen die Gebeine der Toten, die verrosteten Sarggriffe, die Schädel und Beckenknochen in der Psyche des Archäologen, der mit einem Pinsel über die sterblichen Überreste eines Menschen streicht? „Es sind keine Personen mehr, sondern mineralische Objekte“, sagt Uwe Müller, der sich als Berliner freut, an der Erkundung Berliner Geschichte mitzuwirken. Denn die Gebeine gelangen nun, in Kartons verpackt, zu den Anthropologen. Die erkunden, an welchen Krankheiten die Berliner vor 100 und vor 200 Jahren gestorben sind. Und dann kommen sie endlich zur Ruhe: auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.