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Berlin: Maß nehmen beim Maestro

Der britische Star-Schneider Dennis Wilkinson hat im Hotel Steigenberger für ein paar Tage ein Atelier eingerichtet. Am liebsten näht er Fracks für Dirigenten. Auch Sir Simon Rattle gehört zu seinen Kunden

Der Frack des Dirigenten stellt hohe Ansprüche. Er soll gut sitzen, er darf den Mann am Pult nicht einengen, darf aber auch nicht so weit sein, dass die Revere wehen oder der Blick aufs verschwitzte Hemd frei wird.

Damit der Frack so sitzt, muss der Dirigent bei der Anprobe die Arme leicht vorstrecken. Das weiß Dennis Wilkinson, denn er ist Maßschneider mit einer Vorliebe für Dirigenten-Fracks. „Musik ist meine Hauptfreude“, sagt Wilkinson, und weil er Brite ist, macht er gleich noch einen Witz, und zwar auf deutsch, was er nach 122 Besuchen fast perfekt spricht: Dirigenten benäht er gerne, weil er hofft, zu den Vorführungen eingeladen zu werden, bei denen seine Fracks getragen werden.

Auf diesem Wege könnte er diesmal in die Berliner Philharmonie gelangen. Sir Simon Rattle ist einer der Kunden, derentwegen Dennis Wilkinson noch bis zum 7. Mai in Berlin ist. Im Gepäck hunderte von Stoffmustern, Maßband, Stoffkreide und die Kundenkartei, die aber – bis auf Rattle – geheim bleibt, so lange die Kunden noch leben. Weil Wilkinson aber schon 70 Jahre alt ist und seit 28 Jahren im Geschäft, hat er bereits einige seiner Kunden überlebt. Lord Stockton etwa, der von 1957 bis 1964 britischer Premierminister war und 1992 starb, oder den Komponisten Igor Strawinsky.

Inzwischen steuert Sohn David (34) den Jaguar durch den Euro-Tunnel, wenn der Vater seine Festland-Tour startet. Zwei Tage Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt (Main) und Berlin, die einzige Stadt, in der er vier Tage bleibt. In seinem Zimmer im Steigenberger-Hotel am Los-Angeles-Platz hängen die gehefteten Anzüge über dem Garderobenhaken, zwei karierte, ein gestreifter. Anzüge für Künstler, Musiker. Die schätzt Wilkinson auch deshalb, weil sie viel unterwegs sind, oft in London vorbeikommen, wo genäht wird.

2000 bis 2500 Pfund kostet ein Anzug von Dennis Wilkinson. Anzüge, bei denen die Stoffmuster der einzelnen Teile auf Millimeter angeglichen werden, die Stoffe nicht knittern, nicht speckig werden, die den Buckligen gerade, den Dicken schlank und den Dürren stattlich aussehen lassen. Es geht um den Kunden, nicht um den Anzug. Der soll nach Möglichkeit auch nicht britisch, deutsch oder italienisch aussehen. Ein Aspekt, den Vater und Sohn allerdings komplett ignorierten, als sie sich gegenseitig ihre karierten Tweedjackets schneiderten, die britischer kaum sein können. Wie auch die Treue zum konservativen Luxus-Handwerk.

Wilkinsons Ururgroßvater hat die Schneiderei begründet, die die Söhne jeweils übernahmen. Nur einmal hat Dennis Wilkinson gezögert. Als er 17 Jahre alt war, wollte er Thomas Beecham und Wilhelm Furtwängler nacheifern und Dirigent werden. Aber da dachte er: „Es gibt viele ausgezeichnete Dirigenten und viele mittelmäßige Schneider.“

So wurde er lieber ein ausgezeichneter Schneider.

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