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Jenny Erpenbeck am Gendarmenmarkt an einer mit DDR-Fliesen gekachelten Wand an der Ecke Markgrafenstraße / Leipziger Straße.

© Kai-Uwe Heinrich

Mit Jenny Erpenbeck durch Berlin-Mitte: "Man vermisst nicht nur das Gute"

Autorin Jenny Erpenbeck wuchs auf, wo die Welt endete: an der Mauer zum Westen. Beim Spaziergang rund um den Gendarmenmarkt erinnert sie sich.

Als Jenny Erpenbeck über den „Platz der Akademie“ läuft, wie sie den Gendarmenmarkt heute noch nennt, werfen die Gebäude lange Schatten. Der Deutsche und der Französische Dom glänzen in der Oktobersonne um die Wette. „Das waren früher alles Ruinen. Und ringsum Wiese. War eigentlich auch ganz hübsch“, sagt Erpenbeck. Sie hat sich hier gern versteckt, verborgene Eingänge gesucht. „Kinder lieben Ruinen.“ Die hatten etwas Geheimnisvolles, „es war verwunschen“. Erpenbeck trägt eine lange dunkle Strickjacke und Brille. Als sie fotografiert wird, zückt sie den Spiegel und macht das Haar zurecht.

Wir laufen die Markgrafenstraße runter, in einem Souvenirladen kaufen Touristen Postkarten. Historische gibt es hier, in schwarz-weiß. „Wollen wir mal nachsehen, ob es auch Postkarten aus der DDR-Zeit gibt?“, sagt Erpenbeck im Vorübergehen. Sie nimmt die Postkarten hastig nacheinander in die Hand. Sie findet Aufnahmen der Mauer. Doch ihr fehlt das Alltägliche. Davon ist auf den Karten nichts zu sehen. Bevor wir an der Leipziger Straße ankommen, bleibt sie an einer gefliesten Wand aus DDR-Zeiten stehen, dreidimensional sehen die Fliesen aus. An den Rillen haftet Staub. „Gut, dass es den Staub gibt“, sonst käme das Grafische nicht zur Geltung, sagt die Schriftstellerin.

1967 wurde sie in Ost-Berlin geboren. Sie habe als Kind immer in Sackgassen gewohnt, sagt sie. Dort, wo Buslinien ihre Endstationen hatten, der Osten aufhörte, an der Mauer zum Westen. „Nichts Schöneres für ein Kind, als da aufzuwachsen, wo die Welt zu Ende ist“, schreibt sie in ihrem neuen Buch „Kein Roman“.

In dem Buch hat sie Reden und autobiografischen Texte gesammelt. Vieles davon ist persönlich. Erpenbeck ist eine große Konserviererin. Sie will das Gewesene halten, und das gelingt ihr. Jedoch sind es Fragmente bloß. Sie konfrontiert ihren Leser in den kurzen Texten immerzu mit dem Endlichen, dem schon Verblassten, Verglommenen oder wie auch immer gearteten Abwesenden. In dem Text „Wo die Welt zu Ende ist“ beschreibt sie auch ihr Leben in der Leipziger Straße, wo sie einen Großteil ihrer Kindheit verbrachte. Davon spricht sie auch jetzt.

"Es gab kein Wohlstandsghetto und kein Nicht-Wohlstandsghetto"

Sie deutet nach links auf die gewaltigen Wohnhochhäuser auf der anderen Seite der Straße, wo sie lebte. Die Bauten seien auch als Gegenstück zum Springer-Hochhaus zu verstehen, sagt sie später. Ihr altes Wohnhaus hat 23 Stockwerke. Die Leipziger Straße ist sie immer bis zur Wilhelmstraße runter gelaufen, die damals Otto-Grotewohl-Straße hieß, zur Hanns-Eisler-Schule, da hatte sie Klavierunterricht. Später studierte sie an der Hochschule Musiktheaterregie. Erpenbeck erzählt, dass es hier in der Straße große Wohnungen gab, für Familien mit vielen Kindern. Sie sei Einzelkind, habe aber immer ihre beste Freundin besucht, die viele Geschwister hatte. „Alle spielten ein Instrument und im Kühlschrank stand immer Götterspeise.“

Es habe hier aber nicht nur wohlhabendere Familien gegeben. „Es gab kein Wohlstandsghetto und kein Nicht-Wohlstandsghetto.“ Alles sei sehr gemischt gewesen. „Wo jetzt Lidl ist, war die Deli-Kaufhalle.“ Sie erzählt, dass sie dort gern Himbeersoße kaufte, aus dem Westen, zum Eis.

Zwischen den vorbeifahrenden Autos tut sich eine Lücke auf. „Jetzt gehen wir aber mal rüber.“ Ihre dunkle Strickjacke flattert im Wind. Als wir vor ihrem alten Wohnhaus stehen, erzählt sie, dass sie von ihrem Zimmer in den Westen gucken konnte, dort sah sie die Doppeldecker vorüberfahren. Von ihrem Schulhof aus sah sie immer auf die Uhr eines Gebäudes mit der Aufschrift „BZ“, die sagte ihr, wie spät es war. „Meine ganze Schulzeit über lese ich die Zeit für mein sozialistisches Leben von dieser Uhr in der anderen Welt ab“, heißt es in „Kein Roman“.

Sie stößt das klitzekleine dunkelgrüne Tor zum Spielplatz auf, der neben ihrem alten Wohnhaus liegt, und will sich setzen. Hier wachsen Ahornbäume. Sie wirken winzig vor den riesigen bauklotzartigen Kastenbauten. Sie fragt sich, wo heute eigentlich die nächste Schule ist. Früher war hier alles eng beieinander. Sowieso sei es für sie als Kind gar nicht unbedingt schlecht gewesen, dass die Welt so klein war. Erpenbeck schiebt sich eine schwarze Sonnenbrille auf die Nase, während sie in die Sonne blickt.

"Mich interessiert, was zum Alltag gehört"

In den Texten in „Kein Roman“ geht es viel um das Werden, um die Zeit. Auch um ihre Identität als Schriftstellerin. Sie finde sich selbst eigentlich nicht wichtig, sagt sie, wolle aber Zeitgeschichte dokumentieren. „Gleichzeitig habe ich eine große Abneigung gegen das Wegwerfen.“ Vielleicht sei sie auch einfach ein Messie, sagt sie, verneint es aber schnell wieder. „Mich interessiert, was zum Alltag gehört.“ Eigentlich müsse man Steuererklärungen archivieren, die sagen über Menschen viel aus, meint sie.

Route des Kiezspaziergangs (Grafik anklicken zum Vergrößern).
Route des Kiezspaziergangs (Grafik anklicken zum Vergrößern).

© Tsp/Klöpfel

Der Gendarmenmarkt ist wieder erreicht, sie blickt nochmal zum Deutschen Dom. Erzählt von den Interviews, die sie mit Geflüchteten führte, für ihr Buch „Gehen, ging, gegangen“, das 2015 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand. „Dass man die Brüchigkeit der eigenen Welt für möglich hält“, habe sie gelernt, darum habe sie auch so viel Empathie für Menschen aufbringen können, die fliehen mussten. Früh habe sie gelernt, „dass die Dinge relativ sind, dass nichts für die Ewigkeit gemacht ist“. Schließlich wurde ihre Gesellschaft nach der Wende umgekrempelt, ging ihre gewohnte Welt damit verloren.

Unser Spaziergang endet, wo er begonnen hat. Am Konzerthaus hat Erpenbeck geparkt. Bevor sie einsteigt, sagt sie: „Man vermisst nicht nur das Gute, man vermisst das Gute und das Schlechte, weil es das ist, was man gekannt hat.“ Nur weil ihre Kindheit traumhaft war, gelte das nicht für jeden. Es sei eben nicht alles gut und nicht alles schlecht, das ist ihr noch wichtig zu sagen. Dann fährt sie mit ihrem schwarzen Skoda davon.

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