zum Hauptinhalt

Nachruf auf Elisabeth Frenzel (Geb. 1915): "Genug! Nichts davon!"

Sie gab Auskunft über die deutsche Literatur. Über ihre Rolle im Dritten Reich schwieg sie sich aus.

Von David Ensikat

Die Trauergemeinde war klein, zehn, fünfzehn Menschen saßen in den Reihen der Alten Dorfkirche zu Lichtenrade. Es erklang eine getragene Melodie von der Orgel, dazu sprach die Pfarrerin die Verse eines Adventsliedes. „Dem alle Engel dienen, / wird nun ein Kind und Knecht. Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht. / Wer schuldig ist auf Erden, / verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll gerettet werden, / wenn er dem Kinde glaubt.“

Ein Lied zum Advent an einem warmen Tag im Mai. Den Text hatte die Pfarrerin gewählt, weil er von Jochen Klepper stammt, einem deutschen Dichter, der sich im Jahr 1942 zusammen mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter das Leben nahm. Ehefrau und Tochter standen kurz vor der Deportation ins Konzentrationslager, sie waren Juden. Das Lied hatte Klepper im Jahr 1938 geschrieben, demselben Jahr, in dem Elisabeth Frenzel, der die Trauerfeier galt, ihre Dissertationsarbeit fertiggestellt hatte: „Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne“.

Die Pfarrerin sprach über ein schwieriges Erbe, über Schuld und über Vergebung. Sie blickte in schweigende Gesichter und fragte sich, wie ihre Worte wohl ankamen.

Unter den Trauernden, die sich nach der Feier zusammenfanden, gab es die einen, die die Predigt angemessen und gut fanden. Die erleichtert waren, dass Vergeben nicht Verschweigen hieß. Sie wussten ja, worum es ging. Und es gab die anderen, die meinten, dass man bei einem solchen Anlass die Verfehlung der Verstorbenen nicht in den Mittelpunkt zu stellen habe. Über die Verfehlung sprach beim anschließenden Umtrunk niemand mehr. Man hatte auch in den Jahren davor kaum ein Wort darüber verloren.

Elisabeth Frenzel hatte ihr Germanistik-Studium in Berlin begonnen, als die Nazis gerade an die Macht gekommen waren. Wer weiß, wie sie ein paar Jahre später zum Thema ihrer Promotion kam, die Juden und das Theater. Es war ja längst kein Thema mehr, das man ohne die Nazi-Ideologie bearbeiten konnte. War es Überzeugung? Karrieredenken? Aus den Zeilen, die die junge Germanistin schrieb, spricht jedenfalls ein tiefer Antisemitismus. Dass die nationalsozialistische Politik der Ausgrenzung aller Juden notwendig sei, davon war sie überzeugt: „Mit der Vernichtung aller sittlichen Werte, mit der anmaßenden Arroganz, mit dem hypertrophen Machtbewußtsein der letzten zwei Dezennien war das Schicksal der Juden in Deutschland vor der historischen Gerechtigkeit entschieden. Sie mussten stürzen.“ So heißt es in der Dissertation, zu deren Gelingen Herbert Frenzel beigetragen hatte, der Mann, den sie geheiratet hatte, ein Theaterwissenschaftler, Parteigenosse und Redakteur beim „Angriff“, Joseph Goebbels’ Kampfzeitschrift.

Es kam der Krieg, es kam die deutsche Niederlage, es kamen schwere Zeiten für die Frenzels. Zunächst eine Art Berufsverbot, dann die „Entnazifizierung“, jener magische Akt der Umkrempelung eines ganzen Volkes. Zu den wenigen, die zur Rechenschaft für Mord und Hetze gezogen wurden, gehörten die Frenzels nicht. Die Umstände, unter denen sie ihren Persilschein erhielten, sind unbekannt. Die Akten sind verschwunden.

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes war nicht allein eine Sache der Industrie und des Wohnungsbaus. Auch der Geist brauchte neue Nahrung, renovierte Schul- und Nachschlagewerke waren gefragt. Ende der vierziger Jahre suchte der Verleger Joseph Caspar Witsch Autoren für ein Lexikon der deutschen Literatur – und er fand das Ehepaar Frenzel. Die beiden hatten viel Zeit für die Riesenaufgabe und waren dankbar, mit 400 Mark pro Monat entlohnt zu werden.

Im Januar 1951 arbeiteten die Frenzels an der Katalogisierung der Literatur des 19. Jahrhunderts, da erschien in der Berliner Tageszeitung „Telegraf“ ein Artikel mit der Überschrift „Morgenröte der Gestrigen“. Es ging um Dichter mit Nazi-Vergangenheit. In einem Satz wurde die Dissertation von Elisabeth Frenzel erwähnt, die als Buch unter dem Titel „Judengestalten auf der deutschen Bühne“ erschienen war. Den Artikel las Joseph Caspar Witsch, und er schrieb sofort einen Brief an seine Lexikon-Autorin: „Nun kennen Sie sicher zur Genüge die Haltung des Verlages, und Sie werden verstehen, dass es uns unmöglich ist, ein Buch unter einem Namen zu veröffentlichen, unter dem die ,Judengestalten’ erschienen sind … Vor einer Klärung dieser Sache können wir an der Fortführung des Lexikons nichts tun.“

Elisabeth Frenzel antwortete nicht, ihr Mann tat es. Zur Dissertation seiner Frau schrieb er: „Dass dieses unter Fachleuten durchaus traditionelle Thema … an Voraussetzungen geknüpft wurde, über deren Fragwürdigkeit heute gar nicht mehr diskutiert werden kann, ist eine Tatsache, die keiner so schmerzvoll empfindet wie die Verfasserin, die mit ganzen 21 Jahren daran gesetzt wurde.“

Es handelte sich, so sollte man das offenbar lesen, um eine Jugendsünde, für die die Verantwortung jene tragen müssten, die die junge Frau an das Thema gesetzt hatten. Herbert Frenzel erwähnte nicht die zahlreichen Artikel, die seine Frau nach der Dissertation noch schrieb, darunter eine Schulungsbroschüre für Parteigenossen, „Der Jude im Theater“, die später als „eine der übelsten antisemitischen Publikationen aus germanistischer Feder überhaupt“ bezeichnet wurde. Außerdem arbeitete Elisabeth Frenzel an einem Lexikon, das die Juden in der deutschen Theater- und Filmlandschaft katalogisierte. Es war die Zeit, in der die Juden in Vernichtungslager deportiert wurden.

Von alldem schrieb Herbert Frenzel dem Verleger nichts, wohl aber, dass seine Frau kein Mitglied der NSDAP gewesen sei und die Entnazifizierung nach 1945 erfolgreich absolviert habe. Ebenso betonte er, dass er und seine Frau die Arbeit am Lexikon gewissenhaft, termingerecht und objektiv betrieben. Das war offenbar genau das, was Joseph Caspar Witsch zu lesen gehofft hatte. Erleichtert antwortete er: „Wir sind keine Entnazifizierungsbehörde und haben weder Lust noch Neigung, uns um das Privatleben unserer Autoren zu kümmern.“ Immerhin hatte er schon einiges in das Lexikon investiert, und es wäre bestimmt nicht leicht gewesen, so fleißige und bescheidene Autoren wie die Frenzels zu ersetzen. In einem weiteren Brief schrieb er, er freue sich, „dass dieser Zwischenfall nun zur beiderseitigen Zufriedenheit und ohne Restbestände erledigt werden konnte … Mit besten Grüßen, auch an Ihre Frau.“

1953 erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch die „Daten Deutscher Dichtung, unter Mitwirkung mehrerer Fachgenossen herausgegeben von Dr. H. A. Frenzel.“ Kein Zufall, dass in den ersten Auflagen weder seine Frau noch sein vollständiger Vorname verzeichnet waren. Konnte ja sein, dass jemand die Namen mit einer Vergangenheit in Verbindung brachte, deren Restbestände doch noch nicht erledigt waren.

Das Lexikon wurde zum Bestseller, Schüler und Studenten benutzten es. Bis zur 35. Auflage wurden etliche hunderttausend Stück verkauft. Dass der dtv-Verlag im Jahr 2009 das Erscheinen einstellte, hatte drei Gründe. Herbert A. Frenzel war schon länger tot, Elisabeth Frenzel über 90 und inzwischen mit der Aktualisierung überfordert. Wichtiger aber war die Tatsache, dass das Internet Lexika überflüssig machte und der Verkauf stockte. Dass dann noch in der „Frankfurter Allgemeinen“ ein Text über das lückenhafte Lexikon und über die Nazi-Vergangenheit der Autorin erschien, war ein letzter Auslöser. Allerdings hatte es längst ähnliche Artikel in anderen Zeitungen gegeben, ohne dass der Verlag darauf reagiert hätte. Man hatte es wie die Autorin gehalten: Schweigen, damit vergessen wird.

Eine akademische Laufbahn blieb den Frenzels in der Bundesrepublik verwehrt. Sie hielten Kontakt zu anderen Gelehrten, die sich mehr für die schönen Künste interessierten als für die hässliche Vergangenheit. Elisabeth Frenzel schrieb noch zwei weitere Lexika über Stoffe und Motive der Weltliteratur.

Freunde und Verwandte der Frenzels, die die Vorwürfe kannten, mieden das Gespräch darüber, weil sie wussten, dass die Frenzels es meiden würden.

Vor ein paar Jahren feierte eine Cousine von Elisabeth Frenzel ihren 90. Geburtstag. Der Sohn hielt eine Rede über das lange Leben seiner Mutter. Als er auf die dreißiger Jahre zu sprechen kam – nichts über Nazis oder Juden, er hatte nur „dreißiger Jahre“ gesagt – rief plötzlich Elisabeth Frenzel laut dazwischen: „Schluss! Genug! Nichts davon!“

Man wusste nicht genau, lag es am Alkohol, an ihrer aufkommenden Demenz? Eins nur ist sicher: Es war die Vergangenheit, die nicht vergeht.

Zur Startseite