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Anita Mohn

© privat

Nachruf auf Anita Mohn: Wenn’s weh tut, noch ein wenig weiter

„Mohn macht fit“, warb ein Flyer der Tanzschule, darauf sie mit 75 im rosa Gymnastikanzug

Stand:

„Hast Du ein bisschen zugenommen?“ Ein leicht flatternder Blick des Befragten, ein zögerliches „Nö“, von dem klar war, dass es die Wahrheit verbirgt. „Aber doch“, lautete die prompte Reaktion, „da“, ein Finger zeigte auf den Bauch, „und da“, der Finger zeigte auf die Hüfte. „Du isst zu viele Nudeln. Und der Wein ist auch nicht gut für dich.“ Die Unerbittliche selbst war zu diesem Zeitpunkt 80 oder vielleicht auch schon 90 und eine schmale, äußerst bewegliche Person.

Anita. Die um kurz vor sieben die Augen aufschlug, ein paar Dehnübungen nach rechts, nach links, den Rumpf in die Länge gezogen, dann Beine raus und aufgestanden, ein wenig Gymnastik im Stehen, man will doch nicht einrosten, dann ein Kaffee und Knäckebrot mit Kirschkonfitüre, dann auf den Heimtrainer im Schlafzimmer, zehn Minuten ordentlich treten, dann Haushalt und Einkauf. Den Aufzug würdigte sie keines Blickes, lief die Treppen vom zweiten Stock aus leichtfüßig hinunter und mit den vollen Taschen auch wieder hinauf. Für die Fenster, schlug ihre Tochter vor, könnten wir doch mal einen Fensterputzer kommen lassen. Aber nein, natürlich keinen Fensterputzer!

Selbstverständlich spürte auch sie hin und wieder die Anstrengung. Aber Sich-quälen gehört eben dazu, immer ein wenig über die Schmerzen hinausgehen. Wenn’s weh tut, noch ein wenig weiter.

Das sagte sie ebenso jenen, die hier und da ein bisschen zugelegt hatten. Und erstaunlicherweise nahm das jeder von ihr an. Ihre Enkelkinder, ihre Tochter, die Männer der Tochter, ihr Nachbar, mit dem sie 20 Jahre befreundet war. Denen sie ohne großes Gewese Hanteln schenkte. Keiner murrte, alle bewunderten sie. Ganz besonders „ihre Mädels“, die Frauen aus ihrer Gymnastikgruppe, deren Leiterin Anita war, Leiterin und ältestes Mitglied.

Die junge DDR brauchte Lehrer

Ursprünglich wollte sie Apothekerin werden, in Leipzig, wo sie ihre Kinder- und Jugendjahre verbrachte. Sie war viel bei den Großeltern, denn ihr Vater hatte einen Motorradunfall nicht überlebt und ihre Mutter führte ein Geschäft für Tierbedarf. Doch die junge DDR brauchte Lehrer, und so immatrikulierte sie sich für die Fächer Körpererziehung und Biologie. Dass auf ihrem Dritteklassezeugnis hinter „Turnen“ noch eine Vier gestanden hatte, war da längst vergessen. Sie wurde in einer Schule eingesetzt, aber schon kurze Zeit darauf bot ihr ehemaliger Leipziger Sportprofessor eine Assistentenstelle an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam an. Sie zögerte keinen Moment und bildete nun, mit 22, Lehrer aus, eine ganze Reihe davon deutlich älter als sie.

Während eines Sommerrügenaufenthaltes fiel ihr Blick auf den Strandkorbnachbarn. Horst, Anfang 30, Betriebsleiter einer Papierfabrik.

Wenig später bekam er Ärger mit den staatlichen Organen. Er hatte für seine Papierfabrik irgendein Teil, das im Osten nicht aufzutreiben war, aus dem Westen organisiert. Die Polizei rückte an und Horst verschwand aus einer Hintertür. „Ich muss weg“, sagte er zu Anita, und Anita sagte: „Ich komme mit.“ Ein bisschen voreilig. Denn das hätte Republikflucht bedeutet. Davor scheute sie dann doch zurück, wegen der Arbeit, natürlich, vor allem aber wegen ihrer Familie. Die Funktionäre hätten sie nicht einfach wieder reingelassen. Also floh Horst und sie blieb, vorerst. Versuchte es auf offiziellem Weg, beantragte eine „Umzugsgenehmigung“ nach der anderen. Der dritten endlich wurde zugestimmt; die Mauer stand noch nicht.

Sie zogen nach Westend, sie bekamen 1961 eine Tochter.

Anitas Unizeugnis wurde im Westen nicht in allen Punkten anerkannt. Sie hätte nur zwei Semester nachholen müssen, sogar ohne Prüfung. Aber das tat sie nicht. Warum? Fehlte ihr ein kleiner Schubs? Sie, diese bewegliche, disziplinierte, moderne Frau hat es nie gesagt. Und sich nie über verpasste Möglichkeiten beschwert.

Sie nahm ihre vierjährige Tochter bei der Hand und meldete sie in der „Tanzschule Taeger“ an. Und während das Kind Plié übte, machte Anita beim Gymnastikkurs mit. Weil sie so fit und talentiert war, erlaubte ihr Frau Taeger zuerst, Vorturnerin zu werden und dann Vertretungen zu übernehmen.

1978 wechselte sie zur „Tanzschule Broadway“, gab Ballettkurse für Kinder und Gymnastikkurse für Damen. Es hätte durchaus die Möglichkeit gegeben, eigene Räume zu mieten, aber Horst fragte: Und wenn’s schiefgeht? Na gut, dann nicht. Sie nahm es hin, obwohl sie eigentlich nicht zu den Hinnehmern gehörte. Harmonie war ihr wichtig, das schon. Gleichzeitig neigte sie zu kleinen impulsiven Ausbrüchen. Sagte deutlich „Nein“, wenn jemand starrköpfig Recht behalten wollte. Andererseits gelang es ihr dann aber eben doch nicht, alle ihre Wünsche umzusetzen. Sie liebte die Ostsee, zum Beispiel, sie konnte sich gut ein Häuschen an der Küste vorstellen. Doch auch hier schwankte Horst, und es wurde nichts daraus.

Dann wurde Horst krank, schwer. Sie kümmerte sich. Für die Ballettkurse blieb keine Zeit mehr. Aber für die Gymnastikstunden. Wer einmal bei ihr angefangen hatte, blieb, über Jahrzehnte. Aus Schülerinnen wurde Freundinnen.

2000 starb Horst. Es war schlimm, und doch machte sie weiter. Ihr zarter, biegsamer Körper hatte Kraft, die in ihren Kopf hineinwirkte. Sie schien irgendwie nicht alt zu werden. „Mohn macht fit“, warb ein Flyer der Tanzschule noch 2005, die 75-Jährige darauf in einem anliegenden rosa Gymnastikanzug, jede Faser ihrer Arme, ihrer Beine gespannt, das Gesicht frisch und glatt, vollkommene Präsenz. Erst mit 87 gab sie die Kurse auf – wegen der Augen, und weil ihr der Weg zur Tanzschule zu weit wurde. Aber in den Park schaffte sie es weiterhin. Mit 92 turnte sie dort immer noch vor ihren Mädels.

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