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Antonino de Carolis

© privat

Nachruf auf Antonino de Carolis: „Porco dio, du fliegst wie alte Kacke!“

Er ist mal vorm Olympiastadion gelandet, illegal, aber die Leute haben geklatscht

Stand:

Dahin, seine ganze Großmäuligkeit. Driss kann sich wehren, wie er will, es nutzt nichts, die Leute setzen ihm einen Helm auf und schnallen ihn an. Er beginnt zu fluchen, leise anfangs, dann immer lauter, „Putain“ schreit er in den Himmel, „Scheiße“, „verdammt“! Aber er fliegt. Fliegt mit einem Gleitschirm über die Berglandschaft. Und hört auf zu fluchen. Driss, der Held aus „Ziemlich beste Freunde“, ein Typ, der wegen eines Raubüberfalls in Haft saß, gerade entlassen wurde und sehr gern flucht, wird erst Pfleger und bald darauf Freund eines anderen Typen, der reich und nach einem Gleitschirmunfall querschnittsgelähmt und depressiv ist. Und nun fliegt Driss und kann es nicht fassen.

Und nein, Antonino, um den es hier gehen soll, oder besser Tony, saß niemals im Knast, aber fluchen konnte er genauso gut, bei Gott, das konnte er, puttana, porco dio, porca miseria! Und weil sein Deutsch nach 30 Jahren in Berlin doch recht schmal geblieben war, er aber nicht aufs Fluchen in dieser Sprache verzichten wollte, erfand er Ausdrücke, die er an jeden dritten Satz hängte. Am liebsten „Du alte Kacke“, was wesentlich vulgärer klingt als intendiert; oft war es nur ein Füllwort. Seine Freunde haben das dann auf seinen Sarg geschrieben.

Tony hat also niemals jemanden ausgeraubt, und dennoch gibt es, neben der Dauerflucherei, eine weitere Verbindung zu Driss: Beide steckten in einer porca miseria, bevor sie flogen.

... und plötzlich schwebten Gleitschirme über seinem Kopf

Tonys Leben in Berlin war eigentlich ein ganz gutes gewesen, eine Frau, eine Arbeit als Feinmechaniker. Die Firma jedoch ging pleite, sein Chef hatte ihm gegenüber keinerlei Andeutung gemacht, im Gegenteil, es bestand sogar die Hoffnung, Tony würde aufsteigen und die rechte Hand seines Vorgesetzten werden. Doch daraus wurde nichts. Seine Frau hatte schwer zu trinken begonnen, er selbst lebte für ein paar Monate auf der Straße.

Aber er hatte ja Freunde, ziemlich beste. Diese Freunde halfen ihm wieder auf.

Eines Tages ging Tony am Drachenberg, der gleich neben dem Teufelsberg liegt, spazieren. Und plötzlich schwebten Gleitschirme über seinem Kopf, allem Schweren enthoben, wie ihm schien. Das will ich auch probieren, dachte er. Und probierte es. Er wurde einer der Besten. Es mag abgedroschen klingen, aber während des Gleitschirmfliegens muss der Mensch wohl doch Freiheit empfinden. Er hebt ab, bleibt oben, der Wind, der Blick, das Wechseln von einer Welt in eine andere, die man erst dann wieder verlässt, wenn man landet, hoffentlich sanft.

„Tony war eins mit dem Schirm“, sagt ein Freund. „Wir alle haben ihm das Fliegen zu verdanken.“ Denn Tony hat es ihnen beigebracht. Vor allen Dingen die Leichtigkeit, beim Start in der Luft, beim Landen. Manchmal, das bleibt nicht aus, gestaltete sich die Sache weniger leicht. Dann kam er angelaufen, mit seinem gelben Helm und seinem Super-Mario-Schnurrbart und rief: „Porco dio, du fliegst wie alte Kacke!“

Die Freunde fuhren zusammen an die Ostsee, nach Thüringen, nach Sachsen-Anhalt, um zu fliegen. Eine Reise legen sie in einem Wagen, in den sieben Leute passen, zurück. In Jena an jeder Ecke Polizei, ein Neonaziaufmarsch. Die beiden vorn im Wagen tragen raspelkurze Haare. Sie werden von Polizisten angehalten wegen der Frisuren. Es folgt eine Diskussion, nein, das ist nur praktisch unterm Helm. Nach einer Weile öffnet sich die Hintertür des Wagens, heraus steigt ein Türke, gefolgt von einem Libanesen. Schließlich ein Italiener: „Porco dio, was ist hier los, wir wollen fliegen, alte Kacke.“ Die Polizisten räuspern sich verlegen. Dann sagen sie: „Fahrt weiter, aber passt auf.“

Als sei er Teil des Programms

Tonys Traum war es, einmal im Olympiastadion zu landen. Geschafft hat er es aufs Maifeld neben dem Stadion. Dort fand gerade eine Sportveranstaltung, gesponsert von „Adidas“, statt. Tony startete wie immer auf dem Drachenberg, kam in einen Dust devil, einen Luftwirbel, stieg 400 Meter auf, drehte ab und landete auf dem Maifeld, einen Kilometer entfernt. Der Stadionsprecher glaubte, Tony sei Teil des Programms und kommentierte die Aktion, viele klatschten, Tony gab ein Interview, als sei er tatsächlich Teil des Programms – und machte sich dann sehr schnell aus dem Staub. Das Ganze war natürlich illegal und ziemlich gefährlich.

Entertainment lag Tony. Also er liebte es. Hatte in Italien, in Norma, einer Stadt, die über einem Steilhang liegt, und wo man hervorragend mit dem Gleitschirm fliegen kann, Schlagzeug in einer Band gespielt. Er beherrschte auch Gitarre und das Didgerido, setzte sich in die Wilmersdorfer Straße und musizierte, einfach so, für die Leute, die Kinder, Geld egal. Er sang Lieder von Adriano Celentano, aber die meisten brachte er nicht zu Ende, weil er zwischendurch irgendeine Clownerie veranstaltete und sich im Lachen verlor. Dazwischen ließ er riesige Seifenblasen aufsteigen. Auf dem Drachenberg, den er, in Absprache mit dem Ordnungsamt, regelmäßig von Müll und wucherndem Gestrüpp befreite, installierte er Windsäcke, aus alten Gleitschirmen gefertigt, die so groß waren, dass die Kinder jauchzend hindurchlaufen konnten.

Er reiste an die französische Atlantikküste und glitt mit seinem Schirm über die höchste Wanderdüne Europas, hob ab, flog ein Stück, kam wieder herab, lief mit den Füßen durch den weichen Sand, hob erneut ab und immer so weiter. Er fuhr nach Norma, besuchte seine Schwester und seinen Bruder und schwebte über der Pontinische Ebene, sah von oben die Wege und Wiesen seiner Kindheit.

Ist es menschlicher Hochmut, fliegen zu wollen? Gegen die Gesetze der Natur? Dann wäre auch jede Autofahrt eine Hybris. Nach Schätzungen endet einer von 15 000 Gleitschirmflügen tödlich.

Ende August 2025 machte sich Tony auf den Weg nach Laucha in Sachsen-Anhalt, ein hervorragendes Fluggebiet, wo er jeden Grashalm kannte. Er flog los und kehrte nicht zurück. Ein Freund meldete ihn als vermisst. Zwei Tage darauf fand man ihn. Die Ursache für seinen Absturz ist noch nicht geklärt.

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