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Nachruf auf Christa Jacobsohn: Sie hätte schreien können
In der Provinz blieb sie in der Frauenrolle stecken. Und nahm dann doch die Dinge in die Hand
Stand:
Als sei diese letzte Wohnung ein Extrakt ihres Lebens: Nach vorn die tosende Stadt, nach hinten gemächliche Provinzruhe. Vorn weisen die Fenster der weitläufigen Dachgeschosswohnung auf die A 100, die Bahntrassen, die vierspurige Mecklenburgische Straße, deren Kreuzung trotz Ampelanlage eher ungeeignet für Fußgänger ist. Hinten eine imposante Terrasse über den Bäumen des Hofes, das Laub raschelt, die Vögel singen.
In Berlin kam Christa zur Welt, studierte Volkswirtschaft an der FU, zu Zeiten, da Frauen eher selten an der Uni gesehen wurden, promovierte 1959 zum Frauenrecht, heiratete, zog nach Glücksburg bei Flensburg, bekam vier Kinder.
Zehn Jahre lebte sie in einer Einfamilienhausneubausiedlung in dieser nördlichsten Stadt Deutschlands mit Steilküste und Salzwiesen und Renaissancewasserschloss. Und war todunglücklich. Provinzstraßen, Provinzgespräche, Provinzvergnügungen. Provinzstille, in der Christa aufpassen musste, nicht selbst zu verstummen. Denn irgendwann war alles, wirklich alles zu den Themen Kartoffelschälen und Windelwechseln gesagt. Sie war doch eine politische Person, die ihre überaus sozial geprägten Positionen normalerweise lautstark vertrat und sich nicht in Sandkastenunterhaltungen verlor. Die während ihrer Studentenzeit ununterbrochen draußen herumgelaufen war und nicht drinnen gehockt hatte, wie nun offenbar die Mehrheit der Glücksburger. Ja, sie hatte Heinz-Joachim, ihrem Mann, zugestimmt, mit ihm zu gehen, weil er einen lukrativen Posten hier oben angeboten bekommen hatte. Sie spielte mit ihm das typische Paar jener Aufbaujahre, „federte ihn von hinten ab“, wie die Kinder es formulieren. (Für die vier Geburten allerdings war sie jedes Mal nach Berlin gefahren: „In den Pässen meiner Kinder soll auf keinen Fall Flensburg stehen.“)
Der Mann gibt die Richtung vor
Ihr Mann war ein Macher, er gab die Richtung vor und alle liefen hinterher. Sie liebte ihn, darum ging es nicht, 60 Jahre würden sie beieinanderbleiben, trotzdem bezeichnete sie die Glücksburger Zeit als ihre unglücklichste. Sie sind beide vom selben Punkt aus losgegangen, eine Weile einen ähnlichen Weg, Gymnasium, Studium, Doktorarbeit, doch dann, während er weiter rannte, blieb sie in der Frauenrolle stecken. Mitten in der Provinz. Sie hätte schreien können. Dennoch sagt eine ihrer zwei Töchter: „Die erste Feministin in meinem Leben war meine Mutter.“
Denn Christa verstummte eben nicht, sie begann, die Dinge in die Hand zu nehmen.
Sie suchte sich eine Arbeit und schrieb für eine deutschsprachige, dänische Zeitung. Stellte Kindermädchen ein (über Kindergärten muss gar nicht geredet werden).
1968 war endlich Schluss mit der Provinz. Zurück nach Berlin, ihr Mann hatte ein neues Angebot erhalten im Vorstand der Berliner Kindl-Brauerei. Ihr Leben veränderte sich wie auf Knopfdruck. Firmenfeste, Sechstagerennen, Presseball, Restauranteröffnungen, Tennis, Golf, Vernissagen, Finissagen, Champagner und Kaviar im KadeWe. Immer alles zusammen mit einem Trupp von Freunden. Manchmal standen die Kinder in der Frühe an der Bushaltestelle, um zur Schule zu fahren und beobachteten ihre Eltern, die erschöpft-vergnügt aus der Nacht heimkehrten.
Die Särge nach hinten
Dann wurde es seriös. Heinrich Hunold, Christas Stiefvater – ihr leiblicher Vater lebte in Frankfurt und war Banker und Künstler – Heinrich Hunold also führte in zweiter Generation ein Bestattungsunternehmen, in das Christa 1975 einstieg. 1986 übernahm sie es. Sie riss die Fenster auf, ließ frische Luft in den Laden, räumte die Särge nach hinten und richtete vorn ein helles Büro ein. Ihr Lieblingssarg war der „weiße Italiener“, klare, elegante Form. Sie fuhr in einem hübschen, roten Auto umher, wo sonst nur massige, in schwarzen Anzügen steckende Männer in schwarzen, massigen Wagen bei den Kunden erschienen. Hatte ihr Stiefvater noch gesagt: „Wir sind ein katholisches Institut“, öffnete sie das Unternehmen für viele Religionen. Verband Fachwissen mit Menschenkenntnis. 1990 trat ihre Tochter in die Firma ein. Zwei Frauen jetzt, nach über hundert Jahren Unternehmensgeschichte, an der Spitze.
Neben der Arbeit las Christa, beschäftigte sich mit Malerei, mit Musik, ging ins Theater, trug Backgammonturniere in ihrem immensen Freundeskreis aus. Schöne, weite Großstadt. In die sich vor 20 Jahren dann doch wieder, wie aus einem Hinterhalt, die Enge schlich, die Abgeschiedenheit. Denn vor 20 Jahren begann Christas Demenz. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, sie hielt es kaum aus. Und ihr Mann noch weniger. „Die spinnt“, sagte er in seiner kompletten Hilflosigkeit. Oder herrschte sie an, wenn sie sich erneut nach irgendeiner Sache erkundigte: „Das hab ich doch schon tausendfach wiederholt.“
Sie fing an, offensiv mit der Krankheit umzugehen, artikulierte überall ganz klar: „Ich vergesse sehr viel.“ Oder erfand Tricks. Fragte sie etwa jemand: „Wann haben denn ihre Kinder Geburtstag?“, antwortete sie: „Ach, wissen sie, Kindergeburtstage sind überbewertet.“ Aber aggressiv, ein typisches Symptom ihrer Demenzart, wurde sie nie. Sie stellte eine Firmen- und Familienchronik zusammen, sammelte, klebte ein, stundenlang. Gegen das Vergessen.
Sie lebte zwischen dem lauten, vorderen Teil der Dachgeschosswohnung und dem leisen, hinteren. Mochte die Wohnung sehr, fand aber in diesem weiten, offenen Raum keine ruhige Ecke zum Lesen, keinerlei Rückzugsmöglichkeit. Immer und überall war ihr Mann, der schaute, der nach ihr rief. Auch außerhalb der vier Wände, stets holte er sie überall ab, wollte überall mit hinfahren. Vielleicht, sagen die Kinder, und sie sagen es ausdrücklich nicht gegen ihren Vater, war die Demenz eine Flucht. Was schon eine erstaunliche Pointe wäre: inmitten der Großstadt, bildlich gesprochen, in die Provinz fliehen.
Ihren 80. Geburtstag feierte Christa, genoss die Gäste um sich, die Lebendigkeit. Am Ende des Abends saß sie auf dem Sofa und sagte: „Das war schön, das können wir morgen wieder machen.“
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