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Christion Lenoir

© privat

Nachruf auf Christion Lenoir : Nicht von dieser Welt

Das Vertrauen in das eigene Talent war nicht immer riesengroß, doch seine Ziele waren es

Stand:

Vielleicht ist mein einziger Antrieb, herauszufinden, zu welcher Kategorie ich gehöre. Es wäre doch toll, wenn sich herausstellte, dass ich nicht von dieser Welt wäre, und wenn die Jungs mich endlich mit ihrem Raumschiff abholen würden, und ich unter Leuten sein könnte, zu denen ich gehören wollte.

Als er mit 19 Jahren kurz nach dem Abitur seine erste eigene Wohnung bezog, Kiehlufer 9, im hintersten Winkel Neuköllns, wo man direkt in die Wohnungen der Treptower auf der anderen Seite der Mauer schauen konnte, sagte er zu seinen Freunden: „Ich wohne jetzt am Ende der Welt.“

Christion, bürgerlich Christian Jean-Marie Lucien, war in einer weiten und bunten Welt aufgewachsen: dem väterlichen Schrottplatz in Mariendorf. Der Vater war 1951 aus Belgien ins zerstörte Berlin gekommen und zog, in Anzug und Krawatte, mit einem Handkarren von Wohnungstür zu Wohnungstür und fragte nach alten Wasserhähnen und Kupferkabeln und Lumpen. Wie er das anstellte, ist nicht ganz klar, denn er brachte sein ganzes Leben lang keinen vollständigen deutschen Satz zustande. Auch Christion war laut Pass Belgier, und er wollte auch nie etwas anderes sein. Deshalb legte er nicht nur Wert auf die richtige Aussprache, sondern auch auf das kleine „o“ im Vornamen.

Als jüngstes von vier Geschwistern wuchs er in einer Wirtschaftswunder-Kindheit auf. Der Handel mit Rohstoffen boomte, aus dem Handkarren wurde ein Lastwagen und aus der beengten Mietwohnung zog die Familie in ein großes Haus, das der exzentrische Vater „direkt am Platz“ bauen ließ. Dort sprach man Französisch, ein großer Papagei flog umher, und zu Mittag gab es oft Filetsteak mit Chicoree.

Die Jungs aus dem Weltraum kamen nicht

Die Freiheit, die das Aufwachsen im Windschatten älterer Geschwister bedeuten kann, spürte Christion nicht; er fühlte sich eher übersehen. Fragte die Mutter, wie der Pullover aussehen solle, den sie ihm zum Geburtstag stricken würde, wünschte er sich einen einfarbigen ohne Schnickschnack und bekam einen bunten mit Zopfmuster. Als er Trompete lernen wollte, lag unter dem Weihnachtsbaum ein Akkordeon.

Auch die Jungs aus dem Weltraum kamen nicht, aber auf der katholischen St. Marienschule fand Christion Freunde, mit denen er Musik machen konnte. In seinem Keller richteten sie einen Proberaum ein und gestalteten, ganz im Geist der Zeit, progressive „Jazz-Messen“. Anfang der 70er gründeten sie die erste Band „17 & 4“. Christion schrieb Lieder, sang und spielte Gitarre und Keyboard. Das Vertrauen in das eigene Talent war nicht immer riesengroß, doch seine Ziele waren es. In einem Song wünschte er sich, einmal mit Jimi Hendrix aufzutreten.

Christion war es ernst mit der Kunst, zugleich war er selbst sein größter Kritiker. Das Studium der Musikwissenschaften war ihm bald zu trocken, aber so groß der Zuspruch seiner Freunde und Bandkollegen auch war, für das Konservatorium fühlte er sich trotz klassischer Klavierausbildung nicht qualifiziert. Auch die Eltern mahnten, und so wurde es dann ein Abschluss in Betriebswirtschaft.

Er bewarb sich für eine kaufmännische Stelle beim Berliner Konzertchor und kaufte extra dafür einen Anzug. So verkleidet bekam er den Job – und beendete ihn nach einem halben Jahr völlig frustriert. Ich habe BWL studiert, um zu lernen, wie verkommen der Kapitalismus ist. Das war es mit seinem offiziellen Berufsleben, nun begann seine, wie er es nannte, „Zeit als freier Künstler“.

Vier, fünf Konzerte spielte er pro Woche, danach zog er mit den anderen durch die Kneipen, diskutierte und philosophierte – ein schöner, aber anstrengender Vollzeitjob. Er war Sänger einer Coverband, den „Nightshifters“, und für die „Blind Observers“ schrieb er eigene Songs, spielte Gitarre und sang.

Ein Freund sagt, Christion sei ungeheuer produktiv und auch wirklich gut gewesen. Talentsucher von der CBS wurden aufmerksam auf die Band und ihren Sänger, der bei aller Coolness einen ganz zarten französischen Akzent in die englischen Texte legte. Aber bevor es zum Vertrag kam, waren die „Blind Observers“ schon heillos in Streit geraten, über ihren jeweiligen Anteil am künstlerischen Werk und über das Geld, das sie noch gar nicht verdient hatten.

Nichts hatte mich auf diese finanziell so prekäre Zeit vorbereitet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mal ein armer Mann sein würde – mein Vater war es schließlich auch nicht. Aber ich bin es.

Das Arbeitsamt meldete sich und Christion, der mittlerweile auch als Musical-Regisseur mit jugendlichen Laiendarstellern eine deutsche Version von Hair auf die Bühne gebracht hatte, bekam eine ABM-Stelle in der Jugendarbeit nach der anderen. Für das „Junge Schlossplatztheater“ in Köpenick inszenierte er 13 eigene Theaterstücke. Für viele der Jugendlichen war Christion der Inbegriff eines Künstlers, erst recht, da er nie fest angestellt war; dafür fehlte dem Theater das Geld.

Das alte Ende der Welt war schon lange mitten in die Stadt gerückt, und Christion genoss die Berliner Sommer in seinem bunten Viertel, auch wenn er nicht mehr so viel unterwegs war. Dafür tüftelte er nächtelang im Heimstudio an neuer Musik oder schrieb. Mit seinen Krimis um die Detektivin Vera Dorsten tat sich nochmal eine Chance auf. Ein Verlag interessierte sich, es kam zu einem ersten Treffen mit einer Lektorin. Sie schlug ein paar Änderungen vor und Christion verteidigte jedes Komma wie ein Löwe. Er hatte sich doch was dabei gedacht, und wieder roch er den verhassten Kommerz: Die halten den Leser immer für blöde. Man muss nicht alles möglichst einfach und gefällig machen.

Der Krebs kam plötzlich und ließ ihm nicht viel Zeit. Auf der Palliativstation sagt ein Freund: „Jetzt kannst du bald mit Jimi Hendrix spielen.“

Früher wollte ich immer älter werden, damit ich alles machen kann, was die Älteren können, und jetzt möchte ich jünger sein, damit ich all das machen kann, was ich damals beim Warten auf’s Älterwerden verpasst habe. Nichts ist das, was es ist, und doch ist alles so, wie es ist.

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