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Eva-Maria Otto

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Nachruf auf Eva-Maria Otto: Ein mutiges Weiter-geht’s

Man hört ja nicht zwingend auf, ein Wildfang zu sein, nur weil die Zeit voranschreitet

Stand:

Eva und ihre Enkelin unterwegs in den „Gärten der Welt“. Sie spazieren vom chinesischen Teehaus zum Staudengarten und weiter zum Heckenlabyrinth. Zwischendrin, auf einer Bank, zaubert Eva eine Schachtel hervor. Öffnet die Schachtel. Ihr entsteigt der Duft von dickem, süßem Griesbrei, auf dem selbstgepflückte Johannisbeeren liegen, die wie Rubine leuchten.

Eva und ihre beiden anderen Enkelinnen unterwegs im Ephraim-Palais, auf den Spuren von Königin Luise von Preußen. Die Mädchen, in prächtigen Prinzessinnenkleidern, reichen ihrem Kavalier, den Eva gibt, anmutig die Hände, und der Kavalier führt sie durch die hohen Hallen. Vor den spiralförmig ansteigenden Stufen der Treppe des Palais aber vergessen die Kinder, dass sie distinguierte Damen sind und beginnen hastig hochzurennen, woraufhin der Kavalier streng werden muss: Na, das ist nicht fein. Und die Mädchen besinnen sich auf der Stelle, raffen ihre Röcke und schreiten hoheitsvoll.

Eine Großmutter wie aus einem Kinderbuch, lustig, lehrsam, immer da.

Damals, in Grottkau, 60 Kilometer südöstlich von Breslau, war Eva ein Wildfang. Mädchen waren ihr relativ schnuppe, sie rannte mit den Jungs durch Gärten, sprang über Zäune. Ausgelassene Kindertage und auch ausgelassene Jugendjahre. Sie fuhr viel mit dem Fahrrad, lange Touren, bis hoch an die See, das Zelt hinten drauf. Sie war eins der wenigen Mädchen, das überhaupt ein Zelt besaß, es flink aufbaute und den Geräuschen der Nacht durch die dünne Stoffwand lauschte. Sie ging tanzen im schwingenden Petticoat, wirbelte mal mit diesem, mal mit jenem herum. Und wenn sie genug hatte, sagte sie: Oh, entschuldige, ich mache mich kurz frisch, und schwirrte davon ins nächste Tanzlokal.

Von einem Unterschlupf zum nächsten

In der Zwischenzeit aber, noch Kind, noch nicht Jugendliche, war von Ausgelassenheit keine Rede. Da ging es um Flucht und Verlust. Ihr Vater, Abschnittsinspektor für den Autobahnbau, war 1942 gestorben, ihren Bruder Manfred hatte man für den letzten Kampf des Weltkriegs eingezogen. Else, die Mutter, die so schön Klavier spielen konnte, trauerte um zwei verlorene Kinder, ein einjähriges Mädchen, einen fünfjährigen Jungen. Die Rote Armee rückte vor, die Kämpfe in und um Grottkau waren heftig, Eva allein mit ihrer Mutter. Wenn wir weggehen, dachten sie, findet uns Manfred nicht mehr. Wir müssen hier warten. Sie vagabundierten zwei Jahre durch die Gegend, von einem Unterschlupf zum nächsten. Um immer wieder verstohlen zum einstigen Zuhause zurückzukehren: Ist Manfred da?

Sie verrichteten schwere Landarbeit, Eva war gerade mal zehn. Dann setzte man sie in einen Viehwaggon, der irgendwo hinrollte, irgendwann hielt. Sie hörten Stimmen. Jemand fragte aus dem dunklen Zug heraus: „Wo sind wir?“ Die Antwort von draußen: „In Sachsen.“ Genauer, in der Nähe von Leipzig.

Hier erreichte sie die Nachricht von Manfreds Tod.

Geflüchtete galten als verlauste Leute aus der Fremde. Eva versuchte, nicht aufzufallen. Und behielt gleichwohl ihre Quirligkeit, ein mutiges Weiter-geht’s.

Sie bewarb sich an der Fachschule für eine Ausbildung zur Krankengymnastin. In dem Aufnahmegespräch sollten Übungen vorgeführt werden. Alle Anwärterinnen zeigten dieselben Bewegungsabläufe, außer Eva. Sie wurde ohne Umschweife genommen. 1957 legte sie ihr Staatsexamen ab.

Sie lernte Roland beim Tanz kennen, arbeitete in einer Poliklinik, bekam 1965 Barbara, wurde kurz darauf ein zweites Mal schwanger und war immer noch nicht verheiratet. Das schickt sich nicht, moralisierten die Leute in der Klinik mit strengem Blick auf ihren anschwellenden Bauch. Ein Spießrutenlauf. 1966 wurde Steffen geboren. Und schließlich geheiratet.

Die Ehe lief so lala. Eines jedoch war Eva wirklich wichtig: Sie wollte ihre Kinder, so winzig noch, bei sich behalten. Was nun in der DDR, wo Krippen und Kindergärten zum Selbstverständlichsten gehörten, alles andere als alltäglich war.

Schlangestehen in der Sowjetunion

Dann folgte ein Riesenschritt, geografisch gesehen und auch kulturell. Moskau, 1700 Kilometer Luftlinie entfernt, und drei Jahre darauf Leningrad. Roland, Maschinenbauingenieur, war samt Familie in die Sowjetunion delegiert worden. Ein Abenteuer, das mit einem immensen Organisationsaufwand begann, den Eva komplett allein bewältigte: Der Leipziger Hausstand musste eingepackt und vor Ort wieder ausgepackt werden.

Sie half in einem Büro, was mit ihrer eigentlichen Profession nichts zu tun hatte, aber na gut. Sie stellte sich wie die Sowjetbürger nach Feierabend in die Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften. Sie verbrachte den Urlaub an der „Russischen Riviera“, wie es die Leute nennen, in Sotschi am Schwarzen Meer.

Auf die Sowjetunion folgte wieder Sachsen. Wo der Braunkohlendunst so dicht war, dass sie noch einmal aufbrachen, diesmal nach Berlin, umgeben von Wäldern und Seen. Eine Landschaft, die sie liebte.

Eva ließ sich scheiden und nahm eine Stelle im Glühlampenwerk NARVA an als leitende Physiotherapeutin, was sie viel Kraft kostete. Sie massierte verspannte Arbeiterkörper drückte hier und dehnte dort, sieben, acht Mal am Tag. 1992 begab sie sich in den Vorruhestand.

Eva reiste mit einer Freundin nach Rom oder mit dem „Rotel-Bus“, ein Kofferwort aus rollen und Hotel, nach Spanien und Griechenland. Sie lief über den Baumkronenpfad in Beelitz und bewunderte die Färbung der Blätter unter sich. Sie kletterte durch die Alpen. Sie nähte und strickte. Sammelte Schafgarbe und Königskerzen, deren sonnengelbe Blüten sie auf Blechen zum Trocknen auslegte.

Einmal im Jahr, zu ihrem Geburtstag, fuhr die Familie an die Feldberger Seen.

Es existiert ein Foto von Eva, auf einem Waldweg, sie ist 87 und steigt über aufgeschichtete Baumstämme. Man hört ja nicht zwingend auf, ein Wildfang zu sein, nur weil die Zeit voranschreitet.

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