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Gerd Arno Schwiedergall

© privat

Nachruf auf Gerd Arno Schwiedergall: „Die Zeit ist reif!“

Aufmüpfig war er, gab Widerworte, warf mal Steine und wollte überhaupt die Welt verbessern

Stand:

Es waren die 80er, Gerd schlug sich als Student mit Gelegenheitsjobs durch, besonders die Einsätze als Weihnachtsmann fand er toll. Die Verkleidung, die Augen der Kinder, die ganze Stimmung. Einmal jedoch landete er bei einer Familie, in der gar nichts in Ordnung war. Der Vater war betrunken und aggressiv. Die beiden Kinder versuchten die Stimmung zu retten, eins bemühte sich auf der Blockflöte. Doch es half nichts, am Ende weinten Frau und Kinder. Gerd konnte nichts tun, es brach ihm das Herz. Denn er wollte immer etwas tun!

Noch einmal die 80er, das linke Berlin demonstrierte gegen Reagan, den Nato-Doppelbeschluss, die Räumung besetzter Häuser, und Gerd war in der ersten Reihe dabei, schwarzes Tuch über der Nase, Motorradhelm auf dem Kopf, darauf stand: „Die Zeit ist reif“. Einmal fuhr er nachts zu einer Bank, in der Tasche Pflastersteine. Er warf, sie zerschmetterten das Glas. Oder prallten sie ab und fielen wirkungslos zu Boden?

Gerd erzählte gerne, es war immer spannend, und hin und wieder hatten seine Geschichten unterschiedliche Ausgänge.

Spielte er in der Jungens-Fußballmannschaft nicht weiter, weil sie aufgelöst wurde, oder weil er unsportlich war? Ging er in der elften Klasse von der Schule, weil er politisch zu aufmüpfig war, oder weil er tausend andere Dinge im Kopf hatte? Spielte das überhaupt eine Rolle?

Einsamkeit und Abenteuer

Gerd wuchs in einem Kaff in Niedersachsen auf, als jüngster von fünf Brüdern. Die Eltern waren aus Schlesien hierher geflüchtet, doch wirklich angekommen waren sie nie. Der Vater war als junger Mann ein begeisterter Nazi gewesen, arbeitete nach dem Krieg für die britische Armee und war nur am Wochenende zu Hause. Die Mutter hatte MS und war oft im Krankenhaus. Manchmal schimmerte in Gerds Kindheitserzählungen eine große Einsamkeit durch, die er aber schnell mit Abenteuererzählungen im Stil von Jack London vergessen machte.

Er gründete die Schülerzeitung „Radieschen“, er organisierte einen Antifaschistischen Aktionstag mit 1000 Schülern. Aufmüpfig war er, gab Widerworte, und er las viel über die NS-Zeit. Später, wenn er irgendwohin fuhr und sei es auch nur für ein Wochenende, belas er sich über die NS-Vergangenheit des Ortes. Dann ging er die Straßen ab, in denen es jüdische Geschäfte oder Synagogen gegeben hatte.

Gerd trampte nach Berlin, fand Unterschlupf im Flur eines besetzten Hauses, zog in eine WG in Kreuzberg. „Es war laut und wüst, es funktionierte kaum etwas. Es wurde getrunken und gekifft, geliebt, und es waren immer Leute da“, sagt ein Freund, der mit Gerd dort lebte. Trotz dieser Konzentrationshindernisse machte Gerd sein Abi nach, begann ein Ethnologie-Studium, das ihn auf Feldforschung bis in ein kleines Dorf in Nordghana führte. Dieses komplett andere Leben faszinierte ihn, die Malaria brachte ihn fast um.

Eine erste Frau, eine erste Tochter – Gerd gab sich alle Mühe, doch je näher ihm Menschen standen, umso mehr kam da eine zurechtweisende, kontrollierende, dunkle Seite zum Vorschein. Die Ehe zerbrach, Gerd versuchte, ein guter Vater zu sein. Und es musste natürlich weiter gearbeitet und die Welt verbessert werden. Fortbildung als Kulturmanager, Einsätze als Museumspädagoge – und das Geld war immer knapp, zu knapp für all das, was er gerne hatte: Reisen, Theater, Bücher, Musik, Taxifahrten, Großzügigkeit.

Gerd liebte es zu kochen und andere einzuladen, je mehr desto besser, einmal in der Woche zum Filmabend. Gerd servierte Essen; erklärte, warum er den und keinen anderen Film ausgesucht hatte; hinterher diskutierten sie. Brauchte jemand Hilfe, Umzug, Renovieren, Regale bauen, war Gerd da.

Gerd wollte PR-Manager werden, machte wieder eine Fortbildung, ein Praktikum, ein Volontariat, dann die Festanstellung. Endlich war da was, das ihn forderte und Geld brachte. Doch von jetzt auf gleich wurde das Berliner Büro geschlossen und Gerd entlassen.

„Es waren erst schöne und dann schmerzhafte Jahre“

Also ein eigenes Büro – und das war ein Fehler. Wenn er eins nicht konnte, dann war das Werbung für sich selbst zu machen. Es folgte ein weiterer fester Job, in dem er aber nicht glücklich wurde – Gerd kündigte und blieb, auch wegen Corona, ohne Anstellung.

„Es gibt kaum einen Mensch, mit dem ich so lachen konnte wie mit Gerd“, sagt Susanne. Sie hatten sich bei der PR-Fortbildung kennen gelernt. Sie hatte schon ein Kind, zusammen bekamen sie ein zweites. Solange sie klein waren, konnte Gerd nichts mit den Kindern anfangen, war streng, wollte viel zu viel. Als sie älter waren, konnte er mit ihnen diskutieren, konnte ihnen deutlich machen, dass es sich lohnt für eine bessere Welt zu streiten. Als eins der Kinder mit 15 zur größten Comicmesse nach London wollte, sagte er: „Ich komme mit, wir schlafen im selben Hotel, und du musst dich einmal am Tag melden.“ Als das andere Kind auf Partys wollte, sagte er: „Du kannst nach Hause kommen, wann du willst, ich möchte aber per Live-Standort wissen, wo du bist.“

Mit Susanne hielt es nicht. „Es waren erst schöne und dann schmerzhafte Jahre“, sagt sie.

Ein Freund nahm Gerd mit zu einem Fußballspiel vom SV Babelsberg 03. Mit Fußball konnte er überhaupt nichts anfangen, sagte aber „aus soziologischem Interesse an Ausnahmesituationen“ zu. Er war fasziniert, wollte alles wissen: Was hat es mit den Fankurven auf sich? Wie funktioniert die Fanszene? Von nun an ging Gerd zu den Spielen, gründete eine Fangruppe. Als die WM in Katar war, organisierte sie eine Fankurven-Aktion mit Plakaten gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen im Land. Gerd fand neue Freunde, eine neue Heimat.

Im Februar kam Gerd ins Krankenhaus, sein linkes Auge musste wegen einer schlimmen Infektion amputiert werden. Obwohl es immer wieder nach Heilung aussah, hat er das Krankenhaus nicht mehr verlassen. Seine Freunde waren jeden Tag bei ihm, beim allerletzten Gespräch fragte er nach dem SV und nach den Filmabendenden. Würden sie ohne ihn weitermachen?

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