
© privat
Nachruf auf Helmut Hüllen: Die Ausdehnung der Welt
Als er die akademische Welt vollständig verlassen hatte, nannte er sich „Globetrottel“
Stand:
Man könnte den Zug nehmen, den Nachtzug. Man könnte auch ins Auto steigen oder ins Flugzeug, um von Berlin nach Wien zu kommen, oder von Wien nach Berlin.
Man kann das aber auch alles sein lassen und sich, von beiden Standpunkten aus, auf den Weg in die Welt machen, irgendwohin, wo es schön ist, und sich dort treffen. Zum Beispiel in Tschechien. Tschechien ist ideal für zwei Menschen, von denen der eine aus Berlin, der andere aus Wien gereist kommt. Halbe Strecke für jeden. Für Helmut, für Maria, die sich entschlossen hatten, zusammenzuleben, in zwei Städten. Denn das kann man, zusammen sein, ohne sich tagtäglich zu sehen.
Als sie das nicht mehr konnten, Jahrzehnte nach ihrem Kennenlernen, bezogen sie eine gemeinsame Wohnung in Berlin. Im dortigen Badezimmer an der Tür hängt eine Karte, die zuvor bei Maria in Wien gehangen hatte: „Die 111 schönsten Schlösser und Burgen Tschechiens“. Jemand hatte sie ihnen in die Hand gedrückt, woraufhin sie begannen, die 111 Schlösser und Burgen aufzusuchen, um dann auf jedes Schloss, jede Burg einen roten Punkt zu kleben, den letzten vor zwei Jahren.
Helmut liebte das Reisen, reiste immerfort, zuerst allein, dann mit Maria. Vielleicht lag das auch ein wenig am Meer, denn die Welt hatte für ihn am Meer begonnen, vor dieser ausgedehnten Weite, die niemals zu enden scheint, seine Kinder- und Jugendjahre am Deich, in Bremerhaven, eine Erdgeschosswohnung mit Blick aufs Wasser.
Ein Zauberer
Der Vater, Heinz-Hermann Hüllen – in der Familie existierte ein Alliterationsfimmel, alles auf H, Heinz, Hermann, Helmut, der ältere Bruder Hans-Peter, dessen Sohn Hennig, das „Hüllen-H“ – der Vater also war ein ganz normaler Bremerhavener, Angestellter in einer Baustoffgroßhandlung, Frau, zwei Söhne und ein spitzes st in der Aussprache.
Und er war zugleich noch etwas Außergewöhnliches: ein Zauberer. Amateurzauberer im „Magischen Zirkel Bremerhaven“. Er nannte sich „Manelli“, vielleicht weil er so geschickt mit seinen Händen umzugehen verstand. Es gibt Fernsehaufnahmen von ihm, in Glitzerjackett und mit Fliege. Er steht auf einer kleinen Bühne, eine Dame aus dem Publikum muss eine Karte aus einem Kartenspiel ziehen, sie wählt die Pik Zehn, darauf sagt Manelli: „Und jetzt stecken sie die Karte bitte zurück ins Spiel“, er holt ein Seil hervor, tut dies und das, und am Ende hängt genau die Pik Zehn am Seil. Applaus.
Helmuts Vater arbeitete, verdiente Geld – und träumte. Begab sich parallel in eine ausgedehnte Welt. Und sein Sohn sah das alles.
Er ging nach dem Abitur nach Berlin, ausdrücklich nicht, um der Bundeswehr zu entkommen – die hatte ihn wegen seiner Plattfüße ausgemustert –, sondern um an der FU Psychologie zu studieren. Kritische Psychologie, eine dort entwickelte, marxistisch orientierte Ausrichtung, der es um die gesellschaftlichen Bedingungen für Krankheiten ging. Irrenhäuser sollten aufgesperrt und aufgelöst werden. Helmut schloss sich einer maoistische Gruppe an, aus der man ihn allerdings schmiss, zu aufmüpfig. Details sind nicht bekannt.
Er arbeitete in einem Krankenhaus, aus dem er jedoch auch flog – wieder keine Details. Und dann? Dann fuhr er Taxi, und er fuhr um die Welt.
Zuerst arbeitete er für ein Taxiunternehmen, später hatte er mit zwei Freunden einen eigenen Wagen. Er verdiente Geld, und er träumte, immer im Wechsel. Begab sich in eine sehr viel ausgedehntere Welt als sein Vater. Und bezeichnete sich selbstironisch, weil er die akademische Welt vollständig verlassen hatte, als „Globetrottel“. Was natürlich Unsinn ist, Globe- ja, Trottel nein, denn er war ein großer Leser. Vor allem die Russen liebte er, und er kaufte alles, was er las, antiquarisch.
Nachdem er durch Finnland gereist war und ans Nordkap, eineinhalb Jahre quer durch Afrika und mit der Transsibirischen Eisenbahn, ein Jahr Japan, Papua-Neuguinea und Australien durchstreift hatte, wo er im Maschinenraum eines Schiffes gearbeitet hatte und dann schließlich in den USA gelandet war, saß Helmut in San Francisco am Busbahnhof und las ein Buch. Eine Frau trat zu ihm. „Sie lesen ein deutsches Buch?“ Er schaute auf, „Ja.“ So begann es.
Ein Fischkopf eben
Maria hatte niemandem jemals erzählen dürfen, welches Buch er da gelesen hatte. Es war ihm peinlich. Ein Geschenk, sagte er. Und nein, wir nennen den Titel nicht. Nur so viel: Es war ein Roman mit leicht fasslichem Inhalt, weit entfernt von den großen Russen.
Sie verabredeten sich in Passau, in einem Gasthof. Maria behauptete später, dieser habe „Zum blauen Bock“ geheißen, er hingegen beharrte auf „Zum blauen Engel“. Maria amüsiert sich sehr über Bock und Engel. Ein klarer Fall für die Wiener Berggasse 19.
Und apropos Freud: Helmut war zwar kein Psychoanalytiker, dem man nachsagen könnte, er säße zumeist herum und schwiege. Aber ein großer Sprecher war auch er nicht. „Ein Fischkopf eben“, sagt Maria. „Er hat überhaupt nix geredet.“ Sie sagt das auf ihre wienerische Weise, augenblicklich kann man sich die Lebendigkeit dieser Freundschaft vorstellen.
Meist reisten sie. Man könnte einen ganzen Globus mit roten Punkten bekleben.
Sie lasen auf ihren Reisen. Nicht jeder für sich in einer Ecke, sondern tatsächlich gemeinsam, lasen einander vor, das Schönste und Selbstverständlichste für beide, keine Sache, die man erst macht, wenn einer zu alt zum Selbstlesen ist.
In Kutná Hora feierten sie ihren hundertsten Geburtstag, 50 plus 50. In Wien heirateten sie, am 4. August 2017.
Am 1. Januar 2018, das neue Jahr war erst ein paar Minuten alt, wagten sie es dann. „Was hältst du davon …“, begann die Frage, wobei im Nachhinein nicht mehr genau auszumachen ist, wer von beiden sie zuerst stellte. „Was hältst du davon, wenn wir zusammenziehen?“
Bevor sie sich aber, an diesem jungen Januartag, entschieden, in einer gemeinsamen Wohnung in Berlin zu leben, tanzten sie um Punkt Mitternacht, wie es alle Österreicher tun, zum Geläut der „Pummerin“, der größten Glocke des Stephansdoms, den Donauwalzer, umfassten einander und tanzten.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: