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Nachruf auf Julia Franziska Aulich: Ein für alle Mal
Pragmatisch ist sie groß geworden. Und irgendwann entschloss sie sich, ganz pragmatisch, keine graue Maus mehr zu sein
Stand:
Es war ein Schlaganfall, der Julia die Augen öffnete. „Endlich“, wie ihre Tochter sagt. Mit diesem Mann wollte und konnte Julia auf gar keinen Fall weiterleben. 25 Jahre Beziehung, davon viele Jahre, in denen Julia sich klein und unzureichend fühlte, runtergebuttert und ständig kritisiert, waren genug. Ein für alle Mal. Nicht noch einmal weich werden, nicht noch einmal versöhnen. Jetzt war Schluss. Julia zog aus, erst zurück zu ihrer Mutter und dann in eine eigene Wohnung. Das neue Leben wartete auf sie.
Als Erstes begann sie zu tanzen. Einfach so und ohne Partner. „Tja, mein Schatz, du kannst ja sagen, was du willst, selbstverständlich ähnelt mein Tanzen mehr einem Gehoppel und sieht bei meiner Fülligkeit sicherlich nicht gerade graziös aus“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Doch sie lernte wieder zu genießen, unter Leute zu gehen. Langsam, langsam gewann sie etwas Fröhlichkeit und etwas Selbstvertrauen zurück.
Julia war die große Schwester, die sich ihr kleines Zimmer mit ihrem kleineren Bruder teilen musste. Und weil ihre Eltern so viel arbeiten waren, er als Radiojournalist beim DDR-Radio und sie als Produktionsleiterin in einer Bildungsabteilung des Fernsehens, blieb viel an Julia hängen. Auf den Bruder aufpassen, einkaufen gehen, Essen machen. Julia war es, die in Bresche springen musste, wenn die Eltern wieder mal Spätdienst oder Nachtschicht hatten. Julia war es, die zurückstecken musste, weil ihr Bruder mehr von der elterlichen Aufmerksamkeit beanspruchte. Pragmatisch ging es zu Hause zu, pragmatisch wurde sie erzogen. Und natürlich ging sie zur FDJ, ihre Eltern glaubten ja auch an den Sozialismus.
Schlittschuh auf dem Parkplatz
Glück war, wenn sie im Winter mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft auf dem vereisten Parkplatz Schlittschuh fuhr. Das konnte sie richtig gut, Drehung hier, Wende da, rückwärts fahren. Am meisten aber machte ihr das Puppentheater Spaß. In einer Theatergruppe für Kinder lernte sie, wie man mit Stabpuppen spielt, wie man Stimmen imitiert, wie man Kulissen aufbaut. Sie schrieben sogar eigene Stücke. Und sie waren so gut, dass sie nicht nur in Berlin spielten, sondern auch auf Tournee gingen, nach Brandenburg, nach Sachsen, auch nach Polen und in andere Länder des Ostblocks. Das war die vielleicht glücklichste Zeit in Julias Leben.
Tagebuch schrieb sie schon von klein an. Das hatte sie sich von ihrem Vater abgeschaut, der gerne und gut schrieb. Dieses Bild, wie er zum Stift greift, wie er sich nachdenklich über eine leere Seite beugt. Das wollte sie auch, wollte sein wie er.
Julia machte Abitur, nahm einen ersten Job in der Regieassistenz an, doch dann wechselte sie plötzlich in die Industrie, in einen Betrieb, der Wälzlager herstellte. Warum? War es das Praktische, das ihr lag? Sie machte eine Ausbildung als Maschineneinrichterin, eine absolute Männerdomäne, aber pragmatisch, wie sie war, steckte sie blöde Sprüche einfach weg, konnte gut mit den Kollegen.
Und sie lernte ihren Mann kennen. Sein Charme, sein breites Lächeln kamen gut bei ihr an. Sie fühlte sich angebetet, auf Händen getragen. Jeden Wunsch las er von den Lippen ab und das Wichtigste, mit ihm konnte sie lachen. Auf den ersten Fotos sieht sie richtig verliebt, richtig glücklich aus. Er war Handwerker, machte sich selbstständig, und Julia wechselte in sein Geschäft. Als Sachbearbeiterin übernahm sie den Papierkram im Büro: Lohnabrechnungen, Aufmaße für die Kostenberechnung. Später machte Julia noch den Gesellen, fuhr mit auf die Baustelle, packte mit an, wenn gerade Personalmangel herrschte.
Der Spielplätze der Tochter waren die Baustellen
Ihre Tochter kam auf die Welt. Eigentlich, so bekam sie immer wieder vom Vater zu hören, wollte er kein Kind. Aber wenigstens eins sollte es sein, da setzte Julia sich durch. Zur Entbindung ging sie alleine ins Krankenhaus. So pragmatisch wie Julia groß geworden war, so pragmatisch wuchs auch die Tochter auf. Ihre Spielplätze waren die Baustellen, auf denen sie mit Metallteilen bastelte und ganz nebenbei lernte, wie man die Maschinen bediente.
Für die Tochter war all das nicht einfach: der Vater, die krisenhafte Beziehung der Eltern. Der Charme des Vaters war verflogen, dafür flogen andere Dinge. Und auch Julia war nicht besonders fürsorglich, gute Ratschläge konnte sie ihrer Tochter kaum geben. Zuhören, das ging. Aber Gefühle zu deuten, bei sich selbst und bei anderen, fiel ihr schwer. Aber Julia war es, die sich letztlich um alles kümmerte, um den Haushalt, die Tochter, die Arbeit – auf ihre eigene pragmatische Art und Weise.
Im Jahr 2000 war es, nach dem Schlaganfall, nach der Trennung, als Julia in den Spiegel schaute und beschloss, dass sie keine graue Maus mehr sein wollte. Sie ging zu einer Stilberatung und fand den Mut, sich auffälliger zu kleiden, in Rosa und Lila und Weiß. Sie begann sich zu schminken.
Einen neuen Mann lernte sie auch kennen. Doch jetzt war sie es, die den Ton angab, und der Mann machte, was sie sagte. Doch das Glück wollte sich nicht einstellen, er hatte ein Problem mit dem Alkohol, er wurde krank. Seine Tochter, Julias Stieftochter, wurde sehr früh schwanger, und Julia kümmerte sich, wurde eine richtige Großmutter, konnte spielen, konnte behüten, ließ nach und nach ihre Gefühle zu.
Als Großhandelskauffrau arbeitete sie nun bei einer Dachdeckerfirma. Gerne ging sie dort hin, verstand sich mit den Kollegen, ihr Wissen wurde gebraucht, sie wurde geschätzt. Einer Kollegin half sie durch deren Trennung, sie wusste ja, was da auf einen zukommt.
Als ihr Mann starb, blieb sie allein. Sie tanzte, ging in klassische Konzerte, genoss die Rente, bis auch sie starb, ein altes Leberleiden, verschleppt und nun zurückgekommen.
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