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Nachruf auf Kai Köhler: Wenn man sich nur traut
Wie lange würde er bleiben? Würde er je zurückkommen? Keine Ahnung. Wozu auch, das Leben war jetzt.
Stand:
Kai hatte einen besten Freund, der besuchte in fast jeden Tag. Sie redeten über alles; über eine Sehnsucht redete Kai aber nicht. Er war in diesen seinen besten Freund verliebt. Nach Jahren der Freundschaft, traute sich Kai und offenbarte sich ihm. Der Freund stand auf und kam nie wieder.
Kai musste erst aus Erftstadt, wo die Familie nach vielen Umzügen ihre letzte Station gefunden hatte, nach Berlin ziehen, um der Welt zu sagen, dass er schwul war. Seine Schwester nahm er mit in eine Schwulen-Kneipe. Sie wunderte sich, warum hier nur Männer waren, da sagte er es ihr.
Die Kindheit war kompliziert: Das erste Jahr blieb er bei seinen Großeltern, seine Eltern sah er nur am Wochenende. Sein Vater war ein Manager für einen internationalen Stahlkonzern, seine Mutter arbeitete in einer Lottoannahmestelle. Wenn die Mutter ihn später im Kindergarten abgeben wollte, schrie und schrie er, klammerte sich an ihre Beine. Erst als seine Schwester ein Jahr später auch in den Kindergarten kam, wurde es besser.
Kai und seine Schwester standen ihre Kindheit gemeinsam durch, sie entwickelten sogar eine Geheimsprache. Kai war Linkshänder, mit Schlägen auf die Hand trainierte ihm eine Grundschullehrerin das ab. Er war unsportlich, die Schwester stotterte, dann die vielen Umzüge – keine guten Voraussetzungen, um in der Schule gemocht zu werden. Einmal verabredeten die beiden sich zum Sitzenbleiben, um einer schlimmen Mobberklasse zu entkommen.
Tramptouren durch halb Europa
Mit dem letzten Umzug, als Jugendlicher, wurde Kai mutiger. Wollte er jemanden kennenlernen, quatscht er einfach drauflos. So quatschte er sich auf seinen ersten Tramptouren durch halb Europa. Das Geld vom ersten Tankstellenjob floss in Autos, erst ein winziges Goggomobil, dann ein Kübelwagen, den er himmelblau anmalte. Mit seiner Schwester ging er demonstrieren, bei der riesigen Kundgebung gegen den Nato-Doppelbeschluss in Bonn waren sie selbstverständlich dabei.
Berlin, Oktober 1984, Kai startete mit dem Studium der Betriebswirtschaft. Wollte er damit seinen Vater beeindrucken? Er ging allerdings nur selten in die Vorlesung, durch das Vordiplom schleppte er sich, schließlich gab er es auf. Er hatte andere Ideen.
Wenn es Videotheken gab, warum sollte man nicht auch CD’s verleihen? Immerhin kosteten neue bis zu 40 Mark. „Stern-CD“ hieß sein Laden auf der Kolonnenstraße – die Leute liefen ihm die Bude ein.
Als Kai durch Griechenland fuhr, lernte er den bildschönen Marc aus Frankreich kennen. Sie lachten und lachten miteinander, verliebten sich über beide Ohren ineinander. 1990 gründeten sie „Marc und Bengels“, den ersten Berliner Unterwäscheladen nur für Männer. 1991 entdeckte Kai in Rheinsberg eine Ansammlung alter Bungalows an einem See. Die pachtete er, trommelte seine Freude zusammen, und alle verbrachten ihre freien Tage hier zusammen in einer schwulen Gemeinschaft. 1993 dann entdeckte er in der Nähe ein altes Gelände der DDR-Post. Einen alternativen Tagungsort wollte er schaffen, bequatsche die Bank, und bekam 200 000 Mark Kredit.
Seinen Marc allerdings konnte er irgendwann nicht mehr bequatschen. Die beiden trennten sich, und damit war für Kai das Thema „große Liebe“ für immer abgeschlossen. Kleine Lieben gab es viele.
Kai sanierte, organisierte den Betrieb, stellte Leute ein, ackerte Tag und Nacht – bis er sich mit einem Gast stritt, der sich daraufhin an die Baubehörde wandte, die ihm den Laden wegen fehlenden Brandschutzes dichtmachte, von jetzt auf gleich.
Marc weg, Tagungshaus weg, Gesundheit weg. Plötzlich konnte Kai seine Arme und Beine nicht mehr bewegen. Was war da los? Die Ärzte kamen zu keiner vernünftigen Diagnose. So lag er zu Hause, ließ sich von seinen Freunden versorgen, musste sich sogar füttern lassen – und atmete. Er folgte dem Atem bis in die Tiefe seiner Seele und bekämpfte so die Angst, dass sich die Lähmung vielleicht auch auf das Atemsystem ausweiten würde. Monate lag er da und atmete.
Als Armer unter Ärmsten
Und wurde geheilt – oder heilte sich, wie und wovon auch immer. Und legte wieder los: eine Ausbildung zum Atemtherapeut. Auswandern nach Brasilien. Er verkaufte seine Sachen, stieg ins Flugzeug, und weg war er. Wie lange würde er bleiben? Würde er je zurückkommen? Keine Ahnung. Wozu auch, das Leben war jetzt. „Kai zeigte einem, was möglich war, wenn man sich nur traute“, sagen seine Freunde.
Drei Jahre war er in Brasilien. Es war vielleicht die intensivste Zeit seines Lebens. Er wurde ausgeraubt, lebte als Armer unter den Ärmsten, verdiente nur ab und an etwas Geld als Deutschlehrer. Er schrieb Seite um Seite in sein Tagebuch, bewunderte die schönen Männer, litt darunter, dass sich nur wenige zu ihrer Homosexualität bekannten, war fasziniert, wie sie hier einfach in den Tag hineinlebten, da sie eh nicht wussten, was morgen sein würde. Wenn Geld da war, wurden alle eingeladen, wenn keins da war, auch.
2004 kam er zurück, seine Schwester holte ihn vom Flughafen ab. Sie war erschrocken, wie ausgemergelt und bleich er aussah.
Kai lernte Webdesign, fing 2005 bei „booking.com“ an, zog erst nach Amsterdam, dann nach Barcelona. „Da saß er in seinem bunten Blumenhemd, mit einem Lächeln im Gesicht und leuchtend blauen Augen, die mich anstrahlten. Dieser Augenblick traf mich ins Herz“, schreibt eine Kollegin über ihn. Zwölf Jahre blieb er in „booking.com“, bis es ihm zu langweilig wurde.
Er reiste und genoss die Arbeitslosigkeit, bis das Geld fast alle war, dann fand er einen neuen Job und wurde wieder arbeitslos. Zuletzt schwärmte er von KI und machte einen Businessplan für ein Start-up. Im Februar des letzten Jahres bekam er starke Rückenschmerzen. Der Arzt verschrieb ihm Schmerzmittel, die Kai in rauen Mengen nahm. Im Juni, Kai war auf Berlinbesuch, verließ er die Wohnung seines Freundes, brach im Flur zusammen und war tot.
„Von Kai haben wir gelernt, dass das Leben zum Leben da ist. Dass das Leben Spaß machen soll. Dass es in Ordnung ist, glücklich zu sein“, schreiben seine Freunde.
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