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Nachruf auf Luisa Elena Mutscher: Ein Tag nur. Und so viel mehr
Wuki nannten Angelika und Carsten ihre ungeborene Tochter. Wuki für Wunderkind.
Stand:
Im Bauch von Angelika hatte Wuki Platz, klein und leicht war das Baby. Manchmal konnte Angelika einen Fuß spüren, manchmal ein Knie oder war das hier nicht ein Kopf? Kommt mal schnell her, hier könnt ihr es spüren, rief Angelika dann. Wuki war der Arbeitstitel, Wuki für Wunderkind. Ein Wunderkind war es auch.
Carsten, 46, hatte es längst aufgegeben auf eine eigene Familie zu hoffen, bis er auf Angelika traf. 2021 war das, Corona im vollen Lauf, die Welt im Ausnahmezustand. Schnell war klar, dass das zwischen ihnen etwas Ernstes war.
Angelika, 43, hatte schon eine Tochter, die neunjährige Lina. 2023 zogen Angelika und Carsten zusammen, ein paar Monate später schon spürte Angelika, dass das Wunder nicht länger auf sich warten ließ. Mit dem Test in der Hand ging sie ins Schlafzimmer, weckte Carsten. „Ich bin schwanger!“ Keine Sorge, keine Bedenken, nur Freude.
Wann beginnt ein neues Leben?
Mit den zwei Streifen und all der Vorfreude, Gedanken und Plänen, die nun folgten? Ab diesem Moment also, als Angelika und Carsten begannen, Platz in ihrem Leben für den neuen Menschen zu schaffen? Oder als sie Lina davon erzählten? Sie lasen ihr ein Geschwisterbuch vor, in dem erklärt wurde, wie ein Baby im Bauch heranwächst, und was sich verändert, wenn ein weiteres Kind in die Familie kommt. Sie besuchten mit ihr einen Geschwisterkurs, in dem die Hebamme berichtete, wie aus einem Körnchen ein ganzes Wesen wird. Mit einer lebensechten Puppe lernte Lina, wie man ein Baby im Arm hält. Wenn Lina ihre Mutter umarmte, merkte sie, dass der Bauch wieder gewachsen war.
Wie eine kleine Trommel, die ohne Pause schlug und schlug
Der Platz, den sie schufen, wurde größer.
Oder begann das Wuki-Leben als Angelika und Carsten die ersten Herzschläge beim Ultraschall hörten? Wie eine kleine Trommel, die ohne Pause im Bauch von Angelika schlug und schlug. Wollen Sie wissen, was es wird, fragte die Ärztin? Angelika und Carsten nickten. Ein Mädchen.
Die Namensfindung war nicht einfach. Nicht nur Carsten und Angelika mussten sich einig werden, auch Lina hatte ein Stimmrecht. Wenn zwei einen Vorschlag toll fanden, gab es den dritten, der ihn ablehnte. Sie suchten wochenlang, bis sie sich einig waren. Luisa klang genau richtig: klassisch, harmonisch, gleichzeitig ein bisschen frech.
Mit jedem Tag wurde Luisas Platz noch größer.
Bis es soweit war. 16. Oktober 2023, 1:30 Uhr. Angelika weckte Carsten, die Fruchtblase war geplatzt. Einen Monat zu früh, aber Angelika hatte schon gespürt, dass es bald soweit sein würde, hatte Carsten die Geburtstasche zusammenpacken lassen, hatte die Babytrage bereitgestellt. Lina war von Carsten geweckt worden, sie wollte nichts verpassen. Gemeinsam protokolierten sie die Häufigkeit und Länge der Wehen, riefen im Geburtshaus an, fuhren los.
Alles lief so, wie Angelika es im Kurs gelernt hatte, auf die Wehe warten, dann Tönen, Schmerz wegatmen. Zwölf Stunden vergingen, nach und nach ließen die Wehen nach. Angelika entschied, ins Krankenhaus umzuziehen.
War es die Fahrt, die zusätzliche Aufregung, der Ortwechsel?
Um 15:27 Uhr kam Luisa auf die Welt. Der erste Atemzug, ein kurzer Schrei, alles gut.
2405 Gramm schwer, 49 Zentimeter groß, die ersten Untersuchungen ergaben gute Werte, keine Auffälligkeiten, wirklich alles gut.
Als die Hebamme Luisa auf Angelikas Brust legt, ist es eins der schönsten Gefühle ihres Lebens. Das zarte Wesen und die Wärme auf der Haut, die leisen Atemzüge, die winzigen Hände. Die Augen, die sich öffnen und wieder schließen. Die Liebe, die Angelika und Carsten in diesen ersten Momenten verspüren, so groß, dafür gibt es keine Worte. Draußen scheint die Sonne, ein warmer Herbsttag.
Es gibt ein einziges Foto von den dreien: die bis zur Nasenspitze in Handtücher eingewickelte Luisa, die Eltern mit breitem Grinsen im Gesicht. Lina kommt kurz zu Besuch, möchte ihre Schwester sehen. „Ich kann gar nicht glauben, dass ich nun zwei von euch habe“, sagt Angelika. „Ist aber wahr“, erwidert Lina. Endlich ist ihre Luisa da, die von nun an den Platz in ihrer Familien einnehmen darf, der da für sie bereitgehalten wurde. „Das ist also das Wesen, das jetzt Teil meines Lebens wird“, denkt Carsten.
Wie soll man diese Frage beantworten?
Sie bleiben im Krankenhaus, bekommen ein Familienzimmer, Ruhe kehrt ein. Erst schläft Carsten mit Luisa auf dem Bauch. Angelika schaut den beiden dabei zu, gut und richtig fühlt sich das an, bis auch sie einschläft. Um fünf Uhr kommt die Schwester, einen Picks in den Fuß, sie misst noch einmal den Blutzucker des Babys, alles in Ordnung.
Kurz vor acht Uhr wacht Angelika auf, Luisa auf ihrer Brust so still, zu still. Da stimmt etwas nicht. Angelika drückt den Notknopf, Carsten rennt auf den Gang hinaus, Schwestern kommen angelaufen, nehmen Luisa. Endlose Minuten vergehen. Irgendwann führen die Ärzte Carsten und Angelika in den Reanimationsraum, sie sehen, wie sie dem Baby immer wieder auf die winzige Brust drücken. „Die Atmung setzt nicht mehr ein. Dürfen wir aufhören?“, fragt der Oberarzt. Wie soll man diese Frage beantworten?
Ein paar Stunden des Abschiednehmens. Um 15:27 Uhr dürfen die Schwestern Luisa dann mitnehmen. Leben und Sterben, größtes Glück und tiefstes Unglück, Willkommen und Abschied – alles an einem Tag.
„Es gibt dieses Lied. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Warum Luisa von einem Atemzug nicht in den nächsten ging, wird ihr Geheimnis bleiben“, sagt Angelika.
Carsten schreibt im Andachtsraum in ein Buch des Krankenhauses: „Du hast uns all Deine Liebe in wenige Stunden gelegt. Von dieser Liebe zehren wir für immer. Wir sind traurig, aber Du hast uns sehr glücklich gemacht.“
Das Erlebte verbindet. „Möchtest du meine Frau werden?“, fragt Carsten Angelika.
Die beiden heirateten am 18. Oktober 2024.
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