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Marianne Wündrich-Brosien

© privat

Nachruf auf Marianne Wündrich-Brosien: Träumte sie? Verlor sie den Verstand?

Sie hefte sich „Petting statt Pershing“-Buttons an die Jacke, was ihrer pubertierenden Tochter ziemlich peinlich war

Stand:

Genaue Daten sind nicht zu finden. Kombiniert man aber die Häufigkeit des Vornamens Hans und die des Nachnamens Schmidt miteinander, könnten Anfang der 80er Jahre zwischen 3000 und 6000 Männer Hans Schmidt geheißen haben, genug jedenfalls, um die Suche nach einem ganz bestimmten Hans Schmidt bald abzubrechen.

Marianne hatte sich bemüht. Denn ihr Hänschen war in den gemeinsamen Kindheitstagen nicht irgendein Hans gewesen. Sie hatten schon damals in der Nähe von Elbing, nahe der masurischen Ostseeküste, Heiraten gespielt. Mariannes Vater war Ziegeleimeister und Hans’ Vater Ziegeleibesitzer gewesen, und manchmal saßen alle Kinder, Mariannes Schwester Ulla und die Geschwister von Hans, in einem Baum, Hans auf einem Ast über Marianne, von welchem er fröhlich auf sie hinabpinkelte. Was sie später so deutete: „Er hat mich markiert.“

Es kam das Jahr 1945, zuerst floh Mariannes Familie, dann flüchteten die Schmidts. Sie verloren sich aus den Augen.

35 Jahre darauf, Marianne lebte längst in Zehlendorf und hatte ein Kind, verschwand die Familienkatze. Mutter und Tochter begaben sich auf die Suche, liefen die Nachbarstraßen auf und ab, klingelten bei Leuten. Hinter einer Tür erschien ein Junge – und Marianne erstarrte. Sie fasste sich: „Heißt dein Vater Hans Schmidt und wurde 1937 geboren?“ – „Ja.“

Träumte sie? Verlor sie den Verstand? Sie sagte: „Er soll mich heute Abend anrufen.“ Er rief an, er kam vorbei. Sie standen sich gegenüber. Er befand sich mitten in der Trennung, sie hatte die Trennung hinter sich.

Fondue mit dem Laborleiter

Getrennt hatte sie sich von Konrad. Marianne hatte sich nach den Jugendjahren in Mittelfranken auf den Weg nach Berlin gemacht, weil ihr dort eine Stelle als Technische Assistentin für Physik in der Reaktorsicherheit bei der Bundesanstalt für Materialforschung angeboten worden war. Eines Tages wollte sie ein Käsefondue zubereiten, besaß aber kein Stövchen. Sie ging rüber in die Chemieabteilung und lieh sich einen Dreifuß und einen Bunsenbrenner und erzählte ihrer Freundin, die Geräte habe ihr ein magenkranker Praktikant gegeben. „Und wie hieß der?“ – „Konrad Wündrich.“ – „Mensch, das ist doch der Laborleiter.“ Jedenfalls kam Konrad auch zum Käsefondue. Und offensichtlich hat es ihm geschmeckt.

Trotz der Trennung später blieben beide eng verbunden, redeten miteinander, gingen in die Philharmonie. Vielleicht war ihm das Offene an ihr dann doch zu viel gewesen. Offenes Haus, offenes Ohr, und zwar für jeden. Gern auch am Gartentor. Sie nahm sie alle ernst, sie schickte niemanden fort. Da kam etwa der bipolare Arzt in seinen manischen Phasen. Oder ein Mal pro Woche der Honigverkäufer, der plötzlich mit einer Posaune auftauchte und ihr ein Ständchen blies. Oder der depressive Filmemacher, der stundenlang über ein abgelehntes Filmprojekt lamentierte.

Durch ihre Arbeit bei der BAM wusste sie, dass Atomkraft keineswegs sicher ist. Sie schloss sich also der Antiatomkraftbewegung an. Die NATO erließ ihren Doppelbeschluss über die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen, sie machte bei der Zehlendorfer Friedensinitiative mit und hefte sich „Petting statt Pershing“-Buttons an die Jacke, was ihrer pubertierenden Tochter ziemlich peinlich war. Sie engagierte sich beim Friedensfilmtag, der einmal im Monat im Zehlendorfer Kino „Bali“ veranstaltet wurde, und auf dem Filme liefen, die von Krieg und Frieden handelten, auch in einem weiteren Sinn, von Ehekrieg und sozialem Frieden.

1986 dann rief die UNO das „Internationale Jahr des Friedens“ aus, und zu diesem Anlass gründete sie mit anderen den Friedensfilmpreis der Berlinale. Am Anfang nahm kaum jemand diesen Preis ernst. Womöglich taugte das Thema „Frieden“ nicht so sehr für den roten Teppich, zu wenig Glitzer in der Paillettenwelt. Doch das schüchterte Marianne nicht ein. „Demokratie muss man machen“, sagte sie und machte. Sah Jahr für Jahr 30, 40 Filme in wenigen Tagen, diskutierte heftig mit den anderen Jurymitgliedern, war nach der Berlinale erschöpft und glücklich, das letzte Mal 2017. Die Preistrophäe, eine Verbindung von Blume und Kameraauge aus Bronze, hatte ihr Freund Otmar Alt entworfen, von dem dutzende Bilder in ihrem Haus hingen. Ein Haus mit Garten. Marianne liebte Blumen, Vergissmeinnicht, Sonnenblumen, Rosen und vor allem Gerbera. Weil die Gerbera, fand sie, die Blume an sich darstellt, als würde ein Kind eine Blume malen. Schaute ihre Tochter vorbei und brachte ihr einen Strauß, schaute sie immer wieder auf ihn und sagte bestimmt zehnmal: „Wie schön!“

Sie liebte außerdem Süßigkeiten und das Autofahren, das schnelle. Als schon wieder ein Bußgeldbescheid kam, erkundigte sich ihre Tochter: „Warum jagst du mit 90 über die Clayallee?“ – „Der alte VW gibt eben nicht mehr her.“ Sie verstand ihre Raserei als ein Erbe ihres Großvaters, der Motorradrennfahrer gewesen und auch sonst immer wie ein Verrückter gefahren war. Außerdem hatte er Geige gespielt, worin ihm die Enkelin ebenso folgte.

Marianne liebte ihr Hänschen. Den sie, nur wenn sie verärgert war und das kam nicht sehr häufig vor, mit Hans Schmidt ansprach. Sie liebte ihre Enkeltochter. Sie liebte ihre Tochter, der sie den finnischen Namen Tarja gegeben hatte, Tarja, Besitzerin des Guten. In einem kurzen Text für die „taz“ erzählte Marianne 2011 von ihren Spaziergängen im Wald. Sie suche dabei immer nach etwas, das vielleicht ein Liebespaar verloren hatte, eigentlich aber einen Brillanten. „Ich möchte einen finden, nicht etwa, weil ich einen möchte, sondern um ihn meiner Tochter zu schenken.“ So, wie ihre Mutter, die, während sie eine Handarbeit vor sich hatte, sang und dazu mit den Füßen tanzte, ihr einen ganz kleinen, unscheinbaren Brillantring geschenkt hatte, den sie im Fundbüro der Bahn ersteigert hatte. „Sie wollte, dass ich etwas Wertvolles besitze.“ Marianne fand freilich keinen Brilliant im Wald. Doch vor sechs Jahren gab sie den Ring ihrer Mutter weiter an die Tochter.

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