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Nachruf auf Martin Zawadzki: Auf dünnem Eis
Er musste lernen, dass das Leben Grenzen hat. Er befasste sich mit ihnen und dokumentierte alles
Stand:
Martin und Nathalie setzten sich gerne auf Parkbänke, beobachteten die Welt und sprachen darüber, stundenlang. Besonders mochte Nathalie es, wenn Martins Stimme, ein schöner, tiefer Bass in dem noch etwas Höheres, Metallisches mitklang, die Holzbalken der Bank zum Vibrieren brachte, so sehr, dass sie es in ihrem Rücken spüren konnte. „Da habe ich gar nicht mehr gehört, was er genau gesagt hat.“
Seit 2017 waren die beiden explizit „kein Paar“. Martin wollte nicht. Vielleicht hatte er dazu schon zu viele Beziehungen gehabt, die am Ende auseinandergingen, „mit wirklich tollen Frauen“, wie seine Schwester sagt. Warum? Vielleicht weil Martin ewig schwieg, statt sich auseinanderzusetzen? Einmal, nach einem Streit mit einer guten Freundin, sagte er eine ganze Autofahrt von Paris nach Berlin kein einziges Wort.
Vielleicht wollte er sich auch einfach nicht vereinnahmen lassen. „Ich liebe das Alleinsein. Den Rhythmus allein bestimmen, ohne permanente Ansprache“, sagte er selbst in einem seiner Radiofeatures. Es heißt „Bindungslos“ und handelt von der zweitgrößten Herausforderung seines Lebens: Zusammen mit einer dieser Frauen hatte er einen mexikanischen Jungen adoptiert.
Eine Tortur, die Chancen 50 : 50
Die sicher größte Herausforderung, hätte gut seine letzte sein können. Martin studierte gerade Regie, Kamera, Licht und Filmschnitt. Gleich in der Bewerbungswoche hatte er Angelika kennen gelernt. Ein bisschen war er verliebt in sie. Aber sie stand nicht auf Männer, also keine Chance. Sie fand Martins Bewerbungsfilm toll, es ging um Kräne im Westhafen, die Kohle entluden. Die beiden halfen einander bei ihren Filmen, lasen Drehbücher, redeten. Dann wurde bei Martin Leukämie diagnostiziert, 1987 war das. Einzige Heilungschance: eine Knochenmarktransplantation. Eine Tortur, bei der die Chancen 50 zu 50 standen. Darauf konnte er sich nicht einlassen. Anderthalb Jahre fuhr Martin durch Europa, auf der Suche nach Heilern. Monatelang lebte er in Paris bei Buddhisten. Er lernte er auf seinen Atem zu achten, Gedanken Gedanken sein zu lassen, sich mit dem Tod zu beschäftigen, sich besser zu ernähren. Alles half nichts, Martin konnte sich kaum mehr bewegen, die Milz hing „wie ein nasser Fussball in meinem Bauch herum“.
Sollte er sein Sperma einfrieren lassen, diese Entscheidung musste er noch fällen. „Die Begrenztheit des Lebens, das dünne Eis auf dem wir uns bewegen... Ich glaubte kaum, ein neugeborenes Wesen lange genug begleiten zu können. Mal abgesehen von allem anderen, was Vatersein bedeutet. Nicht einmal eine lang andauernde Beziehung schien mir mehr möglich.“ Also nein.
Das Knochenmark spendete schließlich seine Schwester. „Ich habe oft bei ihm gesessen, hinter einer Scheibe. Schlimm sah er aus. Ich habe ihn nur noch an seinen Augen erkannt. Und er hat uns überredet, Fotos von ihm zu machen. Er wollte alles dokumentiert haben“, erzählt sie.
50 Tage nach der Transplantation, im November 1989, konnte Martin die Isolierstation verlassen, geheilt. Eine zweite Chance, ein neues Leben. Monate verbrachte er bei seinen Eltern in Solingen. Hier war er aufgewachsen, als jüngstes von vier Geschwistern. Die Schule hatte er mit 16 geschmissen. Sein Vater schrieb ihm einen langen Brief, bat ihn, eine Ausbildung zu machen. Doch das war nichts für Martin. „Nie regelmäßig gearbeitet. Schubweise mit Leerlauf, mal engagiert, mal lustlos. Ein Freund nervt mit dem Spruch, dass ich doch Bäckereifachverkäufer hätte werden können“.
Die Sache mit der Adoption
Noch in Solingen, lernte er Viola kennen. Martin hatte sich einen Job gesucht, fuhr mit einem kleinen LKW durchs bergische Land. Viola saß auf dem Beifahrersitz. Sie war beeindruckt, wie lebensbejahend er war, wie unbekümmert er auf Menschen zuging. Freunde, die mit ihm unterwegs waren, fanden seine direkte Art manchmal übergriffig. Andererseits konnte er Menschen mit dieser Direktheit regelrecht aufschließen, konnte schnell in die Tiefe gehen.
„Isolator I“ war ein experimenteller Kunstfilm, „Isolator II“ ein Dokumentarfilm, für den Martin einen 48 Jahre alten Feuerwehrmann bei dessen Knochenmarkstransplantation begleitete. 1998 gewann er damit den Grimmepreis. Zehn Filme drehte er insgesamt. Einen über ein Herz, das er vom Spender zum Empfänger begleitete, deren Geschichten er erzählte. Bei dutzenden Filmen arbeitete er als Cutter oder Kameramann. Und er machte Radiofeatures, eins über eine Tour im Faltboot vom Landwehrkanal nach Dänemark. Das Boot hatte er von Violas Vater bekommen, dessen Gedichte er vorlas. Er lernte Menschen kennen, schlief bei ihnen, „Einsame begegnen Einsamen.“ Auf der Rückreise ließ er sich in Rostock von einem Freund abholen. „So glücklich habe ich noch nie gesehen – und nie wieder danach“, sagt dieser.
Dann die Sache mit der Adoption, gemeinsam mit A. So kürzte er seine damalige Partnerin im Feature ab. Bei einer Pizza in „Klärchens Ballhaus“ hatte er sie über Los Angeles ausgefragt. Sie lebte da, er wollte dort einmal hin. Eigentlich sollte es nur eine Sommeraffäre werden, doch es wurde mehr. Als A. einen Jungen mit mexikanischen Wurzeln adoptierte, trug Martin sich als „extended caregiver“ ein.
Wann immer es ihm möglich war, fuhr er in die USA. Er liebte den Kleinen, ließ sich auf ihn ein. Später zogen A. und das Kind nach Berlin. Martin nahm ihn mit zu seinen Freunden, fuhr mit ihm Paddelboot, las abends vor. Der Junge nannte ihn abwechselnd Papa und Martin. Erst wohnten alle zusammen in Martins kleiner Wohnung, dann zog A. aus und Martin übernahm drei Betreuungstage in der Woche. „Er ist mein Antidepressivum“, sagte er zur Freunden. „Was für ein Glück wir mit ihm hatten“, sagt er im Feature.
Doch irgendetwas stimmte nicht mit Martin. Er wurde launischer, vergaß Sachen. Demenz. „Papa kann nicht mehr denken“, sagte der Sohn. Seine Freunde waren für ihn da, seine Schwester, ein Pflegedienst. Doch plötzlich war Martin weg. Rucksack gepackt, darin sein Leatherman, eine Tüte Reisdrink, Brötchen und 185 Euro. Man fand ihn in der Nähe von Kiel.
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