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Nachruf auf Nicole Stehler: „Spinnt ihr? Die würde uns den Kopf abreißen.“
Ihre Mutter war nicht so eine Mütterliche. Grund genug, das ganz anders anzugehen.
Stand:
Auf dem Französischen Friedhof I in Berlin Mitte liegen jede Menge Leute, die sich zu Lebzeiten einen Namen gemacht haben, Schriftsteller, Schauspieler, Politiker. Das auffälligste Grab, das in den letzten Jahren angelegt wurde, ist das von Nicole Stehler, Hausfrau, Mutter. Wo sie wohnte, kannten sie viele, weil sie vielen half, sie kaufte ein, sie putzte, manchmal auch für Geld. Der große, helle Stein kam nach einem halben Jahr aufs Grab, weil sich das Erdreich erst setzen musste, um die Riesenlast zu tragen. Ein Engel umarmt ein Herz, das Geburtsdatum steht unterm Namen, das Sterbedatum nicht.

© Walter Sommer
Nicole ist bei ihrer Oma aufgewachsen, bei der hatte sie es gut. Ihre Mutter war nicht so eine Mütterliche, und ihr Vater wollte von einer Tochter gar nichts wissen. Die Oma war dann krank, dement. Deshalb ist Nicole mit 16 bei Karsten eingezogen. Mit ihm war sie da schon seit drei Jahren zusammen. Er hatte neun Geschwister, da machte eine mehr oder weniger auch nichts aus.
Nach der Schule arbeitete Nicole bei Reichelt an der Kasse, mit 19 wurde sie schwanger, im selben Jahr bezog sie mit Karsten die erste eigene Wohnung, zwei Zimmer, gleich um die Ecke in der Swinemünder. Zwar war der Sohn, den sie bekommen wollte, dann eine Tochter, aber die sollte es auch gut haben, Jenni, wie Jennifer Rush. Wurden halt die rosa Sachen nachgekauft. Die blauen waren dann für die beiden Söhne. Deren Namen suchte Karsten aus: Ritschie wie Ritschie Blackmore und Vinny wie Vinnie Moore, beides Helden an der E-Gitarre.
Die Klappcouch für die Eltern
Dass Nicole zuhause blieb und sich um die Kinder kümmerte, verstand sich von selbst. Sie war da bisschen anders als ihre Mutter. Kindergarten kam gar nicht infrage. Das Geld, das Karsten mit dem LKW und später als Hausmeister verdiente, reichte immer irgendwie, und wenn es knapp war, war es eben knapp. Sie konnten sich sogar die größere Wohnung leisten, Erstbezug, vier Zimmer. Drei für die Kinder, das Wohnzimmer mit der Klappcouch für die Eltern.
Es drehte sich sowieso alles um die Kinder. Jenni und Ritschie fällt nichts ein, was ihnen gefehlt hätte. Als sie die Buffalo-Schuhe für 250 Mark wollte, die mit den Plateausohlen, ist Jenni erstmal zum Vater gegangen, der würde sowieso gleich Ja sagen. War auch nicht fürs Geld zuständig, darum kümmerte sich die Mutter. Die hätte vielleicht ein bisschen gezögert, aber wirklich nur ein bisschen. Kam dann natürlich mit ins „Minicity“ am Tauentzien, wo es die Dinger zu kaufen gab.
Sie war auch immer in der Schule, wenn es was zu klären oder mitzuhelfen gab. Da kannten sie alle. Als Jenni mal die Gitarre eines Lehrers irgendwo angeklebt hatte, kam ihre Mutter zum Direktor, musste sich das Grinsen verdrücken, versprach, dass sie das mit Jenni ernsthaft klären würde und überließ die Klärung dann dem Vater. Denn streng werden, das konnte sie irgendwie nicht.
Umso besser kam sie mit den Freunden ihrer Kinder klar. So eine junge, lockere Mutter hatte sonst keiner. Nichts, was man nicht mit ihr besprechen konnte, und peinlich war ihr auch nichts. Auch als sie längst nicht mehr zuhause wohnten, haben die Kinder andauernd mit ihr telefoniert oder sind vorbeigekommen. Ritchie hat sie gern mit seinem offenen Mercedes abgeholt, einfach so zum Durch-die-Gegend-fahren und Die-kurzen-Haare-föhnen. Hand in Hand ist er mit ihr die Straßen langgelaufen.
Keine Zeit für Trübsinn
Weiter weg in den Urlaub sind sie nie gefahren, selbst als sie sich das irgendwie hätten leisten können. Wenn Karsten gesagt hätte: Los jetzt, wäre sie natürlich mitgekommen. Hat er aber nicht. Dafür gab’s die Werkstatt in Falkenberg mit dem Garten hintendran. Da hatten sie ja alles, einen Grill und einen kleinen Pool und drinnen eine Hochebene zum Schlafen. Karsten hat da an den Autos geschraubt, an Ritchies Mercedes etwa oder an dem rosa Ford Escort, den Jenni zu ihrem 18. bekam. Nicole war für die Teilebeschaffung zuständig, früher über die „Zweite Hand“, später übers Internet.
Natürlich war nicht alles Sonnenschein. Natürlich gab es auch Stunk zwischen Karsten und ihr. Aber deshalb die Familie kaputt gehen lassen? Was sie hatte, hielt sie fest.
In der Coronazeit sind ein paar Leute, die sie kannte, depressiv geworden. Nicole verstand das nicht. Nicht mehr hochkommen, nicht mehr aus dem Haus, wie geht das denn? Sie war immer unterwegs, traf hier jemanden, half dort aus, quatschte rum. Für Trübsinn hatte sie überhaupt keine Zeit.
Dachte sie. Bis der Trübsinn sie erreichte. Da war Corona längst vorbei, und auf einmal kam sie nicht mehr hoch. Ging nicht ans Telefon, blieb im Bett, aß kaum was. „Lass mal, das geht vorbei.“ Dass sie mal Hilfe brauchen könnte, war ja gar nicht vorstellbar.
An dem Freitag hat sie noch mit Jenni telefoniert, erzählte, dass sie gerade draußen war, um sich einen Döner zu holen, und Jenni sagte: „Dann geht’s dir ja wieder besser.“ – „Wenn du meinst.“
Am Samstagmorgen hat Nicole sich dann davongemacht aus diesem Leben, und weil das so unfassbar ist, unpassend, sinnlos, steht das Datum jetzt nicht auf dem Grabstein.
Als Jenni ihrem Vater sagte, was für ein Grab sie und ihre Brüder für die Mutter vorsahen, meinte er: „Spinnt ihr? Die würde uns den Kopf abreißen.“ Jenni darauf: „Uns doch egal. Die kriegt was Großes.“ Ritchie und Vinny, ihre Brüder, waren sowieso dabei. Klar wussten sie, was ihre Mutter gesagt hätte, wenn sie ihr so etwas versprochen hätten. Irgendwas Grobes hätte sie gesagt. Als ob sie sowas Schönes, Teures verdient hätte, was für ein Schwachsinn! Mich könnt ihr irgendwo verscharren. Und warum soll man überhaupt darüber sprechen? Das hat ja wohl noch Zeit.
Jetzt liegt sie unter dem Engel mit dem Herz, und fast jeden Tag ist eins von ihren Kindern da, mit Kaffee und Zigarette, und denkt an sie.
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