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Peter Streblow

© privat

Nachruf auf Peter Streblow: „Ich muss nur fleißig sein“

Er hätte ein düsteres Bild zeichnen können. Doch er fand immer ein hoffnungsvolles Detail

Stand:

Hieß er überhaupt Peter? War er wirklich am 21. August geboren? Und seine Eltern: Wer waren sie, wie hießen sie, und warum hatte seine Mutter ihn im Waisenhaus abgegeben? Niemand weiß es. Ein Junge ohne Herkunft, ohne Geschichte.

Eine Pflegemutter gab es. Wobei weder „Pflege“ noch „Mutter“ wirklich zutrafen. Er war drei, als sie ihn aus dem Waisenhaus holte. Die Heime waren überfüllt, man war froh um jedes Kind, das anderswo unterkam. Vielleicht wünschte sie sich ein Kind, vielleicht wollte sie nicht alleine sein, vielleicht erhoffte sie sich Vorteile bei den Lebensmittelkarten. Damit Peter ganz sicher bei ihr blieb, verbrannte sie seine Geburtsurkunde, gab ihm ihren Namen – und zog insgesamt 20-mal um, von Bezirk zu Bezirk, vielleicht um ihre Spuren zu verwischen.

Wenn Peter seinen Töchtern von seiner Kindheit erzählte, hätte er ein komplett düsteres Bild zeichnen können. Doch er fand immer einen positiven Aspekt, ein hoffnungsvolles Detail, auf das er sich konzentrierte, auf das er sich als Kind schon konzentriert hatte. Als er mit der Pflegemutter in einem Berliner Flüchtlingslager lebte, nicht zur Schule ging, weil sie ihn nicht angemeldet hatte, war er fasziniert von den Boxkämpfen, die er in einem Zirkuszelt beobachten konnte. Oder er erledigte Einkäufe, lief dafür bis nach Ost-Berlin, wo Lebensmittel günstiger waren. Einmal gab es einen Hund, mit dem Peter spazieren ging. Mit ihm erlebte er, wie es ist, ein Wesen ohne Angst zu lieben. Ein Pfarrer erkannte Peters Not, nahm ihn in die Christenlehre auf und schenkte ihm sogar einen Anzug für die Kommunion.

In der Ecke bis er ohnmächtig wurde

Peters Noten waren schlecht. Sobald er in einer Klasse angekommen war, Freunde gefunden hatte, mussten sie schon wieder umziehen. Dann musste Peter schuften, früh am Morgen Kohlen schleppen, den Hauskessel befeuern, damit die Mieter warmes Wasser hatten. Die Pflegemutter hatte eine Hauswartstelle übernommen – die Peter ausfüllte. In der Schule saß er mit schwarzen Kohlehänden, für die es ein ums andere Mal was mit dem Rohrstock setzte. Zuhause musste er manchmal so lange in der Ecke stehen, bis er ohnmächtig wurde.

Mit 14 trat er eine Lehre als Großhandelskaufmann an. Sein Chef war zufrieden, nur in der Berufsschule haperte es mit den Noten. Peter musste abbrechen. Doch sein Chef behielt ihn. Peter arbeitete sich hoch zum Lagerleiter, zum Prokuristen. „Ich muss nur fleißig sein, schneller und besser.“

Es gab Chefs, die nutzten seinen Fleiß aus, überhäuften ihn mit Aufgaben. Und es gab jene, die ihm Verantwortung übertrugen. Schließlich vertrat Peter, der Ungelernte, die Firma auf Messen, handelte Verträge in Millionenhöhe aus. Darauf war er stolz.

Heide studierte Heiratsanzeigen – all die Männer, die sich dort anpriesen. Nur einer nicht: 27 Jahre, katholisch, Peter – viel mehr stand da nicht. Was musste das für ein bescheidener Mensch sein, dachte sie und schrieb ihm. Vor dem Schuhgeschäft waren sie verabredet, jeder mit einer Blume in der Hand. Sie siezten sich. Dass er sie fragte, ob sie Kinder möchte, fand sie reif und verantwortungsbewusst. Dann war die Rechnung im Restaurant zu hoch – sie mussten teilen. Was ihm überaus unangenehm war. Was sie überaus rührte. Dass er noch bei der Pflegemutter lebte, die sein Geld bekam, erfuhr sie später. Mit Heide fand er die Kraft, sich zu lösen.

Dann kam die erste Tochter auf die Welt. Tag und Nacht bewachte Peter sie, rieb ihr den Bauch, wenn sie weinte. Jetzt hatte er eine Familie, jetzt begann seine eigene Geschichte.

So sehr er sich vielleicht danach sehnte – Zärtlichkeiten konnte Peter nicht geben. Heide in den Arm nehmen? Das ging einfach nicht. Sie holte sich ihren Kuss, wenn er morgens zur Arbeit ging. Seine Töchter durften an seiner Nase ziehen, er warf sie in die Luft oder tobte und spielte mit ihnen. Und er las ihnen vor und erfand die phantastischsten Geschichten. Und natürlich sollten seine Kinder aufs Gymnasium gehen. Peter kochte, kaufte ein, putzte – und am Wochenende war er ganz und gar für seine Kinder da.

Was auch immer half, er überlebte

2002 bekam er Magenkrebs. Es hieß, er habe nicht mehr lange. Doch Peter war nicht einverstanden. Er trainierte, machte sich fit für die Operation, die sein Leben retten sollte. In der Krankenhauskapelle betete er zu Gott. Was auch immer davon half, Peter überlebte. Jedes Jahr, das nun kam, war für ihn ein zusätzliches.

Arbeiten konnte er nicht mehr, also Frührente mit Abschlägen. Macht nichts, Peter wusste, was er geschafft hatte. Und er bastelte an der Wohnung weiter und er malte seine Bilder. Als Heide krank wurde, übernahm Peter einen großen Teil der Pflege. Er schmiss den Haushalt, half beim Ankleiden und wusch sie. Wenn sie rausgingen, hakte sie sich bei ihm unter und er, der immer vorangeeilt war, stellte sich auf sie ein.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie Tagebuch geführt. Als sie ins Krankenhaus kam, setzte er es fort, erst mit der Hand, dann mit der Schreibmaschine. Als sie starb, ging er auf die Dachterrasse und dachte nach. Ein Leben ohne Heide – machte das noch Sinn? Was war denn mit seiner Enkeltochter?

Er stellte den Krückstock beiseite, trat einem Turnverein bei – seine Enkeltochter sollte keinen gebrechlichen Opa haben. Und er meldete sich bei einem Besuchsdienst der Kirche an. Er besuchte nun ältere Menschen, hörte zu mit offenem Ohr für ihre Not. Seine jüngere Töchter schenkten ihm ein BVG-Abo, Peter machte Ausflüge, besuchte Konzerte.

Sein Körper wurde immer kleiner, sein Radius wurde immer kleiner, schließlich nur noch die Wohnung. Aber Hilfe lehnte er ab, natürlich putzte er die Fenster selbst.

Das letzte Telefonat war am 15. Dezember. Die Erkältung sei abgeklungen, es gehe ihm wieder besser, er mache sich jetzt einen Tee. Dann ist er eingeschlafen. Gefunden wurde er ein paar Tage später, auf der Sterbeurkunde „zwischen dem 15. und 17. Dezember“. Wann er nun genau gestorben ist?

„Ich muss nur fleißig sein, schneller und besser“

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