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Nachruf auf Renate Schmidt: Man soll sein Herz nicht an Dinge hängen
„Guckt mal das schöne Wetter!“, sagt sie auf Ausflügen, „Stellt euch vor, es würde jetzt regnen.“
Stand:
Renate wird im ostpreußischen Insterburg geboren, ihrer durch den Krieg verlorenen Heimat, von der sie gern erzählt, die sie aber, als es nach der Wende möglich ist, nicht wiedersehen will. Sie meint, sie habe damit abgeschlossen, trotzdem abonniert sie das „Ostpreußenblatt“.
Ihre Mutter hat ihr und ihrem Bruder bei der Flucht, man hörte schon die Geschütze der Roten Armee, als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, gesagt, sie sollten aus dem Fenster schauen, weil sie ihre Heimatstadt zum letzten Mal sehen würden – damals eine lebensgefährliche Aussage. Aber die beiden Kinder waren so gespannt auf die Reise, dass sie keine Wehmut empfanden.
Renate wird ihren Kindern später raten, ihr Herz nicht an Dinge zu hängen: „Wenn man einmal alles verloren hat …“ Sie versucht, sich vor Schicksalsschlägen zu schützen, indem sie sie selbst heraufbeschwört: „Guckt mal das schöne Wetter“, sagt sie auf Ausflügen, „Stellt euch vor, es würde jetzt regnen.“ Während ihr Mann an jedem Gegenstand hängt und sich von nichts trennen kann, verschenkt sie hinter seinem Rücken Dinge, um Ballast abzuwerfen.
Ihre Erinnerung an Ostpreußen ist von der Kindersicht geprägt, deshalb sind die Wälder Ostpreußens undurchdringlich, kaum dass man vom Weg abkommt, und die Schneewehen, in die man sich schleudern lässt, wenn man sich bei Bauern an den Schlitten hängt, sind größer als man selbst. Tatsächlich trägt man damals gegen die beißende Kälte einen gestrickten Streifen Wolle vor der Nase, der festfriert. Wenn ihre Kinder krank sind, bindet Renate ihnen eine verschwitzte Männersocke über einen Halswickel, so hat man es in Ostpreußen gemacht.
Renates Mutter, die beim Fluchen polnische Ausdrücke benutzte, hatte eine Stelle als Sekretärin am Arbeitsamt angenommen und dort Renates Vater kennengelernt, der das Amt als SPD-Mitglied aufgebaut hatte und leitete. Er fand, das sei die richtige Frau für ihn, vergaß es aber wieder, weil er zu beschäftigt war. Er war schon 50 und wie seine vielen Brüder Junggeselle. Als die Nazigruppe des Arbeitsamts 1933 die Parteifahne hisste, ließ er sie abnehmen. Er wurde entlassen und tauchte mit seiner Sekretärin, Renates Mutter, auf dem Hof seiner Vorfahren unter, wo in einem Baum noch eine Kugel von Napoleons Rückzug steckte.
„Hittelchen, mein Hittelchen“
Erst dort beschlossen sie zu heiraten. Renate sagt deshalb zu ihren Kindern immer: „Ohne Hitler würde es euch nicht geben.“ Die ganze Nazi-Zeit stand bei Renates Vater ein Bild von Friedrich Ebert auf dem Schreibtisch. Mit seiner Haltung zu den Nazis war er in seiner Familie eine Ausnahme. Eine Tante kniete vor einem Hitlerbild und betete: „Hittelchen, mein Hittelchen, ich liebe dich!“ Sie weinte, als Renates Vater darauf beharrte, dass Hitler keine blonden Haare habe.
Weil Renate es in der ersten Klasse nicht aushält, eine Antwort zu wissen, die anderen Schülern nicht einfällt, läuft sie zur Lehrerin vor und flüstert sie ihr ins Ohr. Wie schlau Renate ist, merkt wahrscheinlich gar keiner, von Mädchen erwartet man das noch nicht. Sie liest die Bücher aus der Bibliothek immer schon auf dem Heimweg im Gehen. Dafür steht sie nicht gern im Mittelpunkt. Wenn Renate Geburtstag hat und die eingeladenen Kinder kommen, versteckt sie sich vor Scheu in den Himbeersträuchern.
Renates Vater hatte Kinderlähmung gehabt und musste von einem Dienstmädchen zur Schule getragen werden. Er schimpft über die Verschwendung, wenn seine Frau ihren Kindern Handschuhe kaufen will. Renate muss bei Spaziergängen Holz für den Winter auflesen. Wenn sie sich still verhält, darf sie sonntags im Arbeitszimmer ihres Vaters neben dem Schreibtisch sitzen. Väter leben damals in ihren Familien wie ein ewiger Gast. Aber Renate wertet auch das positiv, denn nur deshalb habe sie nie vergessen, wie ihr Vater einmal mit ihnen zu Weihnachten Zahlenlotto gespielt habe.
An ihrem fünften Geburtstag ist Renate mit ihren Eltern im Ostseebad Cranz an der kurischen Nehrung und schließt Freundschaft mit einem netten erwachsenen Paar. Sie verspricht ihren neuen Freunden, am nächsten Tag wiederzukommen, aber am nächsten Tag ist Krieg und sie müssen zurück nach Insterburg. Renate bettelt, sie habe doch versprochen wiederzukommen. Aber der Strand ist wie leergefegt.
Oft sind ihre Erinnerungen mit historischen Ereignissen verknüpft. Als Renate acht ist, kommt ein Freund ihres Vaters zu ihnen, um sich von ihm zu verabschieden. Ihre Eltern sind nicht da. Renate hält ihre Hände hinter dem Rücken versteckt, sie hat Angst, jemand könnte sehen, dass sie einem Juden die Hand gibt. Herr Hirsch bestellt ihren Eltern einen Gruß. Er muss nach Theresienstadt. Sein Sohn hüpft vor Vorfreude von einem Bein aufs andere.
Sie geht leer aus, weil sie so rosig aussieht
Als ihr Vater nach dem Attentat auf Hitler eingesperrt wird, ist Renate neun. Ihre Mutter schickt sie mit einer Tüte Tomaten zum Arzt, weil sie den Hinweis bekommen hat, dass ihr Mann von SS-Leuten aus dem Gefängnis dort hingebracht werden wird, er hat 200 Wanzenbisse und ist vom Fieber entstellt. Renate hat Angst, ihr Vater könnte sie erkennen, als er ohne Gürtel an ihr vorbeigeführt wird und sich die Hose hält. Ein Lehrer hatte gesagt, ihr Vater sei ein Kommunist und: „Kommunisten sind Mörder“. Nachdem sie die Tomaten abgeben konnte, ist sie so erleichtert, dass sie zu einer Tante geht, Kuchen isst und den ganzen Tag bleibt. Zuhause bekommt sie von ihrer verängstigten Mutter eine Riesentracht Prügel. Die Kinder müssen selbst den Riemen holen, wenn sie versohlt werden. Renate wird immer behaupten, solche Schläge hätten ihr nicht geschadet. Als ihr Bruder einmal die Lebensmittelkarten verlor, habe ihre Mutter geweint, statt ihn zu schlagen, das sei viel schlimmer gewesen.
In Arnstadt in Thüringen, wo sie nach der Flucht leben, muss Renate in Hausschuhen durch den Schnee zur Schule gehen, weil ihre anderen Schuhe unterwegs verloren gegangen sind und man ihnen als Flüchtlingen keine neuen verkaufen will. Die einheimischen Kinder, die in der Klasse in der Minderheit sind, haben mehr zu essen. Wenn morgens ein Brötchen übrig ist und von der Lehrerin an einen Schüler vergeben wird, geht Renate immer leer aus, weil sie so rosig aussieht. Renate ärgert sich ihr ganzes Leben, dass man Ostpreußen in Thüringen für eine rückständige Region gehalten hat, dabei hatten sie in Insterburg schon Wasserspülung gehabt und dann in Thüringen nur Plumpsklo.
In der DDR fliegt Renates Vater schon bald wegen „Opportunismus“ aus der SED. Später gehen ihre Eltern in den Westen, wo sich ihre Mutter nie mehr ein Kleid kaufen wird: Das würde sich nicht mehr lohnen. Im Westen liegt ihr Vater oft nachts wach und sorgt sich, ob ein Paket angekommen sei, das er zu Renate in den Osten geschickt hat. Sie wirft sich später vor, dass sie nicht immer gleich geschrieben hat. Solche Schuldgefühle begleiten sie ihr Leben lang. Deshalb sitzt sie bei Gruppenreisen nicht gerne vorn im Bus, denn dort sieht der Erklärer immer, wenn man die Augen schließt, weshalb sie sie auflassen muss. Als der sowjetische Kosmonaut Leonow Schwerin besucht, nimmt sie sich aus Protest gegen die SED vor, nicht zu winken wie alle anderen, die hier am Straßenrand Spalier stehen. Hinterher tut es ihr leid für den Mann.
Dabei hat sie viele Verehrer
Beim Studium in Greifswald schmiert man sich zum Monatsende hin Mostrich aufs Brot. Wenn ein Mädchen in die Kneipe kommt, singen die Jungs: „Wir winden dir den Jungfernkranz“, dann rennt das Mädchen vor Schreck raus. Renate ist aber gesellig und trinkfest, ihr Vater hat ihr Skat beigebracht, damit sie sich später in Männerrunden in der Kneipe behaupten kann. Sie schneidet sich ihren roten Zopf ab, weil er den Jungen in der Tanzschule ins Gesicht fällt, und weil sie hofft, dann weniger unter Kopfschmerzen zu leiden.
Renate findet sich hässlich und wird ihren Söhnen raten, eine Frau wie sie zu nehmen, das halte länger. Dabei hat sie viele Verehrer. Einen katholischen Kollegen wird sie verschmähen, obwohl er ihr beim Antrag sein geöffnetes Sparbuch vorlegt; ihre protestantischen Vorfahren sollten nicht umsonst für ihren Glauben aus ihrer Salzburger Heimat nach Ostpreußen geflohen sein. Einmal hält sie am West-Berliner Funkturm ein Mann für eine Prostituierte und bietet ihr 20 Mark. Sie sagt, sie würde hier nur auf ihre Leute warten. „Dann 50 Mark“. Da weiß sie ihren Wert.
Nach dem Studium kommt Renate als Sprachwissenschaftlerin an die „Akademie der Wissenschaften“ in Berlin, wo sie ihren Kommilitonen Hartmut wiedertrifft, der im Studium immer nur gelesen hatte, und in den sie sich jetzt verliebt. Sie heiraten, ziehen nach Friedrichshain, in ein abenteuerlich proletarisches Milieu und bekommen dort drei Kinder. Dass die Eltern den gleichen Beruf haben und sich zuhause darüber austauschen, erscheint den Kindern normal, auch dass ihre Eltern es, wenn es um richtiges Deutsch geht, im Zweifel besser wissen als die meisten ihrer Lehrer. Jahrelang wird an Vorhaben gearbeitet, die zu Hause nur „der Grimm“, „das WdG“ oder „das HdG“ heißen, was sich den Kindern erst mit der Zeit erklärt, sie aber schon früher stolz machte. Wer hat schon Eltern, deren Namen in Büchern stehen?
Beim Mauerbau ist Renate auf einer Reise in Rumänien und Hartmut in Göttingen. Als er, wie vorgesehen, nach einer Woche freiwillig zurückkehrt, brüllen ihn die Grenzer an, warum er erst jetzt komme? Hätte er im Westen bleiben sollen? Die Frage stellen er und Renate sich die nächsten 30 Jahre. Sie tröstet ihn immer, im Westen hätte er nicht so nette Kinder bekommen. Dann gibt er zu bedenken, dass man ja nicht wissen könne, ob er dort noch nettere bekommen hätte.
Die DDR ist auch ihr Land, und mit einem gewissen Trotz wird daraus der Anspruch abgeleitet, dort nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Das Leben in der DDR ist nicht ganz einfach, aber die Erfahrung werden sie nicht missen wollen. Es müssen auch vernünftige Leute dableiben, sowieso werden die Ideale des Sozialismus in der DDR ja eigentlich nur noch von den Christen ernst genommen.
Den Mauerfall verschlafen Renate und Hartmut. Dafür ergattern sie Karten für ein Konzert in der Philharmonie, das Daniel Barenboim am folgenden Sonntagmorgen umsonst für die Ost-Berliner veranstaltet. Ganz klein sind beide auf dem Cover der Schallplatte zu sehen, die von diesem Konzert herausgegeben wird, und wenn man genau hinhört, hört man sie vielleicht beim Applaus.
„Ich hätte gerne mal meine Ruhe.“
Die vielen Freunde und Verwandten im Westen, zu denen Renate jahrelang den Kontakt gepflegt hat – die Mauer hatte paradoxerweise auch eine verbindende Funktion –, können jetzt besucht werden. Traumlandschaften werden bereist, nach denen meist Romane Renates Sehnsucht geweckt haben, vor allem natürlich die ihrer geliebten englischen Autorinnen, allen voran Jane Austen. Kritisch betrachtet sie jede neue Verfilmung von „Stolz und Vorurteil“, ob der Hauptdarsteller auch das erforderliche markante Kinn habe; nur Colin Firth findet ihre Gnade. In Südfrankreich kann sie den Finger in den Fluß „Doubs“ stecken und sich freuen, weil „Dups“ auf Ostpreußisch „Hintern“ heißt. Damit wird an einen der Sprüche ihres Vaters erinnert: „Popocatepetl, Titicacasee und Doubs“.
Dafür wird nach der Wende die Akademie der Wissenschaften abgewickelt, und sie müssen der Arbeit ans Institut für Deutsche Sprache nach Mannheim folgen. Wie viele Flüchtlinge hat Renate aber die Fähigkeit entwickelt, sich überall schnell anpassen zu können. Die vielen neuen Kollegen aus dem Osten setzen durch, dass man auch in Mannheim wie gewohnt gemeinsam in der Mittagspause essen geht, als „Kollektiv“ sozusagen
Renate leidet ihr Leben lang unter Migräneattacken, sie ist überzeugt davon, das Leiden vererbt bekommen zu haben. Ihre masurische Großmutter, die noch kein Deutsch gesprochen hatte, war vor Schmerzen klagend durchs Haus gelaufen: „Mei Goof, mei Goof, mei Goof!“ Später durchtrennte ihr ein berühmter Arzt den Trigeminusnerv, ohne dass es geholfen hätte. Wenn Renate Migräne hat, liegt sie tagelang im verdunkelten Zimmer und meldet sich am Telefon trotzdem mit fröhlicher Stimme. Nie würde sie vor anderen klagen, das hat sie als Kind gelernt.
Vielleicht unterschätzen die Ärzte auch deshalb ihre gesundheitlichen Probleme. Oder hat sie sie ihnen überhaupt geschildert? Es ist ihr eigentlich nicht möglich, einen Wunsch direkt zu äußern. „Wolltet ihr nicht noch spazieren gehen?“ heißt bei ihr: „Ich hätte gerne mal meine Ruhe.“ Sie hat noch nicht vor zu sterben und plant, endlich wieder in die Oper zu gehen, mit 20 hat sie Bach überwältigt, mit 25 Wagner. Aber ihr Herz verlässt die Kraft.
Renate hatte immer das Gefühl, großes Glück gehabt zu haben im Leben, so vieles hätte schlimmer ausgehen können. Fast schon zwanghaft fühlt sie mit Menschen mit, mit denen das Schicksal härter umgegangen ist. Ihr Bedürfnis, niemandem zur Last zu fallen, führt bei ihr zu Schuldgefühlen. Jahrelang leidet sie darunter, dass sie dem Kellner im Bucher „Schloßkrug“ einmal versprochen hatte, im nächsten Jahr wiederzukommen, dann aber weggezogen ist. Ob man sie dort in Buch immer noch erwartet?
Dass es sich am Ende durch ihren Tod nicht vermeiden lassen würde, doch einmal selbst im Mittelpunkt zu stehen, wäre ihr sicher unangenehm gewesen. Sie hätte ihre Angehörigen zu trösten versucht. „Das wird schon wieder“, hätte sie gesagt, und dass man, wenn man tot ist, wenigstens nicht mehr sterben kann.
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