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Nachruf auf Rita Hermanns: „Ich will nach Amerika!“
Kein Abhauen, kein Wegrennen aus engen Verhältnissen. Ein Entdecken neuer Welten
Stand:
Rita, geboren und aufgewachsen in Duisburg, Nordrhein-Westfalen, bewohnte ihr erstes eigenes Zimmer mit 17 in Phoenix, Arizona.
Ein Jahr zuvor war da dieser Junge aus Kalifornien in ihrer Klasse aufgetaucht, der für ein Jahr als Austauschschüler blieb, der anders sprach und lachte und dachte und eine Möglichkeit verhieß: sich selbst auf den Weg machen. Wobei, das ist wichtig, dieses Sich-auf-den-Weg-machen nichts mit einem Abhauen, einem Wegrennen aus den beengten Ruhrpottverhältnissen zu tun hatte, sondern dem Entdecken neuer Welten. Ja, die Wohnung ihrer Eltern war winzig, vier Kinder, zwei Zimmer, der Vater Stahlarbeiter, die Mutter Verkäuferin und Hausfrau. Aber einfache, enge Verhältnisse bedeuten nicht zwangsläufig einfache, enge Köpfe.
Ritas Mutter hatte es nie gereicht, Hausfrau und Mutter zu sein, sich in der kleinen Wohnung zu verkriechen, während ihr Mann auf Schicht war. Sie schloss sich dem christlichen Frauenverein an, dem Chor und dem Kegelclub, trat als Büttenrednerin auf und spielte in Theaterstücken mit. Selbstverständlich gab es Leute im Ort, nicht nur Männer, die nicht müde wurden, die Litanei von der Frau hinterm Herd und mit dem Putzlappen in der Hand herunterzubeten, doch Ritas Vater hatte sich ja nicht ohne Grund diese lebhafte, dunkelhaarige Schöne ausgesucht, die Bücher und Zeitungen las und fröhlich mit ihm über Politik debattierte.
Bereits die Mutter der Mutter, Omma, war kein Mäuschen. Nannte sie ein Enkel versehentlich „Oma“, wies sie das empört zurück: „Dat binnisch nisch, hört sisch ja furchtbar an!“ Sie wohnte fünf Kilometer entfernt in der Mannesmann-Arbeitersiedlung und es herrschte immer Trubel bei ihr, vor allem sonntags, wenn die ganze Familie vorbei schaute. Immer krabbelte irgendein Kleinkind über den Boden, während ein Cousin eine Zigarre rauchte und ein Onkel schon am Nachmittag beim dritten Schnaps angelangt war. Alle redeten, grundsätzlich gleichzeitig. Es gab Kuchen und Kaffee und Limonade, es wurde Halma gespielt. Irgendwann legte Omma Schallplatten auf, Conny Froboess und Peter Alexander, die Banjo Boys und Operetten. Am frühen Abend klingelte es an der Tür. „Na, Jupp, wat willste denn haben?“, fragte dann Omma, die in ihrem Haus eine Art Späti betrieb. „Ich nehm heute mal zwei Alt und zwei Köpi“, antwortete Jupp. Und wieder die Omma: „Dat holt dann dat Rita. Die kennt sisch aus.“ Und so stieg Rita in den düsteren Keller und kam mit Altbier und Pils nach oben. Sie liebte das.
Omma war versessen auf Geschichten
Manchmal übernachtete sie bei Omma, die ihr zum Einschlafen vorlas oder Geschichten erzählte, Omma war versessen auf Geschichten und erst sehr viele Jahre später begriff Rita, dass es Kinder gibt, denen niemals vorgelesen wird. Im Übrigen existierte auch ein Oppa, den hingegen kaum jemand zu Gesicht bekam, da er, kriegsverletzt, seine Zeit allein in seinem Bett zu verbringen wünschte.
Rita also sagte zu ihren Eltern eines Tages: „Ich will nach Amerika!“ Nach einem kurzen Schweigen der Eltern, platzte es aus der Mutter heraus: „Hätte ich damals gekonnt, wäre ich sofort gefahren.“ Woraufhin der Vater hinzufügte: „Schön ist dat schon, aber...“
Wie sollte das alles bezahlt werden? In finanzieller Hinsicht sind die einfachen Verhältnisse eben nicht wegzureden. Doch Rita fand eine Lösung. Sie erfuhr, dass die Austauschorganisation Stipendien anbot. Dafür musste man allerdings etwas tun: erstens eine Bewerbung schreiben und die Unterlagen beifügen, die die einfache Herkunft belegen, zweitens einen Essay, und drittens im Auswahlgespräch die Eignung beweisen. Der Aufsatz, sie hatte das Thema Entwicklungspolitik gewählt, gelang ihr mühelos, ihr leichtfüßiger Umgang mit der Sprache war allen, Lehrern wie Schülern, schon längere Zeit aufgefallen, ihre Lust am Formulieren, ihre Gabe, Texte nicht wieder und wieder ins Unreine schreiben zu müssen, bevor eine brauchbare, endgültige Fassung glückte. Sie mochte es, zu argumentieren, zu diskutieren, wurde erst zur Klassen- und dann zur Schulsprecherin gewählt.
Rita schickte die Bewerbung also ab, und erhielt unverzüglich eine Antwort, in 14 Tagen, stand dort, habe sie sich vormittags in Bad Godesberg einzufinden.
Ihr Vater fuhr sie. Während der Fahrt führten Vater und Tochter eine der Debatten, die sie schon häufiger ausgetragen hatten, er vertrat sozialdemokratische, gemäßigte Positionen, sie die radikaleren Ziele der Achtundsechziger. Sie nahmen Tageszeitungsartikel auseinander, kamen von Deutschland auf die Weltlage und wieder zurück, ich sehe das so, nein, nein, du irrst dich, und als Rita dann vor dem Auswahlkomitee saß, konnte sie sowohl mit ihrem Wissen punkten, als auch mit ihrem unerschrockenen Auftreten. Einige Wochen darauf kam der Bescheid: Sie durfte fahren.
„Vous êtes seule, Mademoiselle?“
Die amerikanische Gastfamilie schickte ihr Fotos. Rita stand da, die Bilder in der Duisburger Wohnung in der Hand und guckte auf Orangen- und Grapefruitbäume, auf einen Garten, in dessen Mitte ein ungeheurer Swimmingpool lag.
Also Arizona. Es war ein schönes, es war ein lehrreiches Jahr. Mit breitem Amerikanisch statt Schulenglisch. Mit Auftritten in einer Theatergruppe. Mit dem Highschoolabschluss. Und mit der Erfahrung, mitten im weißen, wohlhabenden, rassistischen Amerika zu sitzen, das tausende Kilometer entfernt, in Vietnam, einen grausamen Krieg führte.
Nach dem Abitur, wieder in Duisburg, brach sie nach Paris auf, arbeitete dort als Au-pair-Mädchen und ging auf eine Sprachschule. Sie mochte die Stadt, die Männer aber gingen ihr auf die Nerven. „Vous êtes seule, Mademoiselle?“ Ständig wurde ihr hinterhergerufen. Ein Monsieur ließ sich absolut nicht abschütteln, worauf sie sich umdrehte und ihm eine Ohrfeige verpasste.
1973 begann sie Sozialwissenschaften und Politologie zu studieren, erst in Aachen, dann am Otto-Suhr-Institut in Berlin. 1977 schrieb sie ihre Diplomarbeit über Emma Goldmann, eine Anarchistin, Friedensaktivistin und Feministin. Und zog dann weiter, nach Italien, Mailand, wo sie Deutsch unterrichtete. Sie schrieb für die „taz“. Noch immer gerieten ihr Texte mühelos, ohne unablässige Korrekturen unzähliger Versuche, denn sie hatte das, was sie sagen wollte, bereits vorher in ihrem Kopf hin- und herbewegt. Für manche, politisch heikle Artikel, etwa über die Ermittlungen der West-Berliner Staatsanwaltschaft gegen West-Berliner Skinheads, die im Oktober 1987 an einem Überfall auf die Ost-Berliner Zionskirche beteiligt waren, benutzte sie den Namen ihrer Großmutter, Helene Korf. Der bundesrepublikanische wie auch der DDR-Geheimdienst nahmen sie in den Blick, in ihrer Stasiakte, sehr viel später, fand sie sich in einer Liste von Leuten, die unter „politische Untergrundtätigkeiten“ geführt wurden und an einem Tag X in ein Isolationslager gesteckt werden sollten.
Sie trat der „Alternativen Liste“ bei, war zunächst Fraktionsassistentin im Abgeordnetenhaus und danach Pressesprecherin. Sie verließ die „AL“ wieder, da sich einige Mitglieder zu wenig von terroristischen Anschlägen distanzierten, wählte aber ihr Leben lang grün. Sie traf Giovanni aus Florenz und pendelte zwischen Berlin und dessen Wohnung, die allerdings nicht beheizbar war, worunter sie im Winter litt, Rita, die die Wärme liebte und mindestens einmal im Jahr in ferne Länder reiste, bei denen sie sicher war, dort keinesfalls zu frieren.
Sie siezten sich, zwei Jahre lang
Sie wurde Pressesprecherin und Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, 1989, in dem Jahr, in dem sich die Mauer öffnete. Und in dem sie Wolfgang traf, in der Austernbar des KadeWe. Wolfgang, der konservative Journalist beim ZDF, der selbst beim Wandern einen Anzug trug, ein „Gentilhomme“, kein ruppiger Pariser Hinterherrufer, der Rita, der wilden „taz“-Tante, formvollendet den Hof machte. Er schenkte ihr prächtige Blumenbouquets, die sie überall in der Oranienstraßen-WG aufstellte. Er schickte eine Fülle sorgfältig formulierter Briefe und Postkarten. Er sprach Einladungen aus. Sie siezten sich, zwei Jahre lang. Rita genoss diese Kunst der Verehrung. Er bat sie, sie duzten sich mittlerweile, seine Frau zu werden. Aber sie lehnte ab. Nicht aus mangelnder Liebe, sondern eher aus dem Impuls heraus, nicht der alt hergebrachten Norm folgen zu wollen.
Gemeinsam entdeckten sie den Osten, bereisten die neuen Bundesländer und ehemaligen Ostblockstaaten, Rita begann, Polnisch zu lernen. Die Wende, sagt Sophie, ihre Tochter, 1991 geboren, sei das große politische Ereignis im Leben der beiden gewesen, „sie waren vollkommen besessen vom Osten“. Anders als für so viele Linke war die Wiedervereinigung für Rita immer die einzig akzeptable Option gewesen.
Als Sophie 18 wurde und sich entschlossen hatte, nach Cambridge zu gehen, heirateten ihre Eltern doch noch. Eine Art Geschenk zur Volljährigkeit und zum Abschied von der Kindheit. Rita machte jetzt den Antrag, in der Austernbar im KaDeWe. Und Wolfgang lehnte nicht ab.
27 Jahre waren sie ein Paar. 2015 starb Wolfgang an einem Gehirntumor.
Die Trauer zerriss Rita, und doch wurde sie keine stumme, einsame Witwe. Lebte so intensiv weiter, wie zuvor. Blieb, wie ihre Tochter sagt, die Anarchistin, die ihr halbes Leben für den Staat gearbeitet hatte. Die Feministin, die Ehefrau und Mutter war. Das Arbeiterkind aus Duisburg, die Weltreisende, die Journalistin.
Sie schrieb sich als Gasthörerin an der Humboldt-Universität und an der FU ein, besuchte Seminare über jüdische Einwanderer in den USA, über politische Philosophie und Literatur. Sie tauschte mit ihrer Tochter Texte aus, tat so, als würde sie es nicht merken, wenn die Tochter eins ihrer Bücher einfach so mitnahm, und ihre Tochter sagt nun: Wessen Bücher soll ich jetzt klauen? Sie fuhr nach Israel, Usbekistan, den Iran. Verbesserte ihr Polnisch. Saß in einer Jury für Kindertheaterstücke.
Sie mochte es nach wie vor nicht, am Morgen, während des Frühstücks, angesprochen zu werden. Oder überflüssige Ratschläge, wie, bei Regen einen Regenschirm mitzunehmen. Dafür drehte sie sich gern vorm Spiegel, bevor sie ausging zu Lesungen, Konzerten, in die Oper, ins Theater, um Reden und Trinken mit ihrer „Weinbarclique“.
Sie wurde selbst Omma, die mit ihrer Enkelin über die Spielplätze zog, die Geschichten erzählte und Bücher einsprach, damit das Kind auch später noch ihre Stimme würde hören können. Denn sie wusste, sie würde bald verstummen. Eine Woche nach der Geburt der Enkelin hatte Rita die Krebsdiagnose bekommen.
Nach einem Routineeingriff im November 2022 fragten Freunde sie: Wie geht’s? Und sie antwortete: Geht so. Allen war in diesem Moment klar: Da ist was Gravierendes. Die Zeit der Therapien begann, der Nebenwirkungen, der Schmerzen. Journalistisch sachlich und präzise gab sie Auskunft. Kein Lamento. Doch dann hörte sie auf, ihr spezielles Omma-Lachen zu lachen, hörte auf, das Kind hochzuheben, hörte auf, mit ihm über die Spielplätze zu laufen.
Nach Ritas Tod fand ihre Tochter ein Gedicht von Philip Larkin, „Wozu gibt’s Tage?“:
Tage sind, wo wir leben.
Sie kommen, wecken uns
Immer und immer wieder.
Sie sind da, um
Immer wieder neu anzufangen,
Um sich überraschen zu lassen,
Manchmal, um sie zu überstehen, und
Um sich an sie zu erinnern.
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