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Rüdiger Reitmeier

© privat

Nachruf auf Rüdiger Reitmeier: Man kann es schaffen

So unerträglich die Anfeindungen auch waren, so sehr half ihm seine Homosexualität, mit seiner Herkunft zu brechen

Stand:

Es ist möglich, man kann es schaffen, man kann den Wechsel in die so genannte höhere Klasse schaffen, Didier Eribon ist es ja auch gelungen, und Eribon, Arbeiterkind und inzwischen berühmter Autor, kommt aus der Provinz. Rüdiger kam immerhin aus München.

Bei Rüdiger wie bei Eribon, beide in den Fünfzigern geboren, handelte es sich um ein doppeltes Überlaufen, um eine zweifache Flucht: raus aus der Arbeiterklasse und raus aus dem homophoben Milieu. Rüdiger verschwand direkt nach dem Abitur nach Berlin, wobei er der erste in seiner Familie war, der überhaupt das Abitur ablegte. Eribon floh nach Paris. Beide empfanden einerseits sexuelle Scham, andererseits Herkunftsscham.

Als Rüdiger Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ las, sagte er: Das ist meine Biografie.

Eribon schreibt über seinen Vater, er habe mehr gebrüllt als gesprochen, sei ein dummer und gewalttätiger Mensch gewesen, durch und durch homophob. Das passte punktgenau auf Rüdigers Vater. Er schlug den Sohn, beschimpfte ihn. Rüdiger hatte früh entdeckt, dass er schwul war, schon in seiner Teenagerzeit, eine Tortur damals, speziell im katholischen Bayern. Männern, die ihr Schwulsein versteckten, vor allem Berühmtheiten wie Rudolph Moshammer oder Walter Sedlmayr, hefteten die Leute, halb verklemmt, halb verhüllend, die Attribute Kauz oder ewiger Junggeselle an. Bei einem einfachen Jungen hingegen mussten sie sich nicht zurückhalten, der war einfach eine Schwuchtel.

Ein Unding, eine Impertinenz in den Augen des Vaters

Zu dieser Abweichung kam eine weitere: Rüdigers Kunst- und Literaturinteresse. Ein Unding, eine Impertinenz in den Augen des Arbeitervaters, ein Verrat. „Naa, Kunst“, blaffte er. „Spinnst jetzt völlig!“

Doch so unerträglich die Anfeindungen und Brutalitäten auch waren, so sehr rettete ihn seine Homosexualität, weil sie half, dem erdrückenden Familienklima zu entfliehen, mit seiner Herkunft zu brechen. Sein heterosexueller jüngerer Bruder, Rüdiger hatte außerdem noch drei Schwestern, schaffte es nicht, versank im auferlegten Männerstumpfsinn und nahm sich früh das Leben.

Also Berlin. Ein Bohème-Leben in den 80ern. Die Entdeckung einer quecksilbrigen schwulen Welt, die es damals so nur hier gab.

Er studierte Theaterwissenschaft an der FU, schrieb seine Magisterarbeit über Hans Henny Jahnn, einen schwulen Schriftsteller. Er verehrte den Dichter Stefan George und sammelte seltene Bücher von ihm, aber sein Budget war knapp, die wirklich wertvollen Sachen musste er auf Auktionen den Wohlhabenden überlassen. Kultureller Aufstieg ja, wirtschaftlicher nein. Wie es bei Eribon steht: Er würde niemals vor einem Notar sitzen, der die Verteilung des üppigen Erbes verliest. Sein Erbe taugte eher dazu, verwischt zu werden. Je nach Situation und Gesprächspartner passte er sich an, kontrollierte Sprache und Gesten, um ja nichts von seiner Herkunft durchscheinen zu lassen.

Eine Buchreihe, an der Rüdiger mit drei anderen Autoren beteiligt war, eignete sich hervorragend dazu: Reiseführer durch die damals noblen Viertel Berlins anhand der Geschichten Prominenter. Am Anfang Dahlem, dann Wannsee, Grunewald, Lichterfelde, Westend. Rüdigers Interesse galt den Kulturberühmtheiten und den Filmstars aus der Ufa-Zeit, Kafka, der Modeschöpfer Heinz Oestergaard, der Philosoph Georg Simmel, Zarah Leander, Marlene Dietrich. In den Büchern wurden Lebensmomente der Porträtierten so miteinander verbunden, dass ein lebendiges Ganzes entstand. Sie verkauften sich hervorragend.

Auf die Frage: Wie geht’s dir?, antworte er: Gut.

Rüdiger unternahm Reisen nach Marokko und Tunesien und schrieb auch darüber. Er wechselte die Seite, von der theoretischen Theaterwissenschaft hin zu Komparsenrollen auf der Bühne und im Film. Spielte unter Michael Thalheimer am Deutschen Theater, unter Barrie Kosky an der Komischen Oper. Wir wollen deinen Kopf, sagten die Regisseure. Rüdigers eindrucksvollen, von Weitem schon auffallenden Kopf. Er trat in der Trash- und Transenszene auf. Steckte seine große, schlanke Gestalt in allerlei Kostüme, erschien als Bayerns traurig-sehnsüchtiger Ludwig oder einfach nur im Paillettenfummel.

Er überlegte lange, was er auf dem Christopher Street Day tragen würde, der für ihn sowohl ein buntes Fest als auch eine politische Veranstaltung war. Besonders viel Haut zeigte er nicht, da war er g’schamig, da blieb er Münchner, bei aller Liebe zu Berlin: schee sein, fesch sein, bella figura machen, aber es gibt Grenzen. Das galt auch im übertragenen Sinn. Schmerz nicht nach außen tragen, Verzweiflung nicht zeigen, selbst wenn der Liebste gestorben war, Michael, nach 25 gemeinsamen Jahren. Auf die Frage: Wie geht’s dir?, antworte Rüdiger: Gut. Und lief jeden einzelnen Tag zum Grab.

Man verlässt eine Welt und gehört ihr trotz allem weiterhin an, schreibt Eribon. Rüdiger las die „Süddeutsche Zeitung“, auf keinen Fall ein Berliner Blatt. Er besuchte seine Mutter regelmäßig, der brutale Vater lebte längst nicht mehr. Als sie starb, ließ er in ebendiese bürgerliche „Süddeutsche“ eine Todesannonce setzen.

Es ging ihm nicht gut in letzter Zeit, der Fuß tat weh, das Laufen fiel schwer, kein leichter, tänzelnder Schritt mehr, keine bella figura. Dass es ihm allerdings richtig schlecht ging, konnte niemand seiner Freunde sehen. Weil Rüdiger es nicht wollte. Er floh, noch einmal, jetzt jedoch endgültig.

Ein Freund fand einen Hinweis, im Nachhinein, tief verborgen im Netz, ein Post unter anderen, unauffälligen Nachrichten, ein Gedicht des Münchner Dichters Eugen Roth: Ein Mensch schaut in der Straßenbahn / Der Reihe nach die Leute an. / Jäh ist er zum Verzicht bereit / Auf jede Art Unsterblichkeit.

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