
© privat
Nachruf auf Tonia Merz: So aufrecht wie nur irgend möglich
„Das Korsett ist zu mir gekommen“, sagte sie. Was ein bisschen zu bescheiden klingt
Stand:
Tonia war 50 und tanzte immer noch die Nächte durch, Stunde um Stunde, ohne Pause. „Ich bin ein altes Techno-Mädchen!“ Natürlich hatte sie schon Anfang der 90er bei der Love Parade mitgetanzt, ganz vorn auf dem KissFM-Wagen als Gogo-Girl.
Die „Fusion“ war ihr Lieblingsfestival. Hier war Tonia Mama und Königin zugleich. Wer völlig ausgepowert war, bekam bei ihr etwas zu essen und zu trinken. Wer schnell mal musste, durfte ihre Notfalltoilette benutzen. Wer einen Ort brauchte, um runterzukommen, lag im Schatten ihres VW-Busses. Wer Energie brauchte, dem gab Tonia etwas von ihrer: lachen, zuhören und reden. Aus ihr sprudelte es nur so, mal sanft, mal laut, immer direkt und offen. Einmal, so erzählte sie es in einem Podcast, gab es auf der „Fusion“ einen geheimen Tanzort am Seeufer. Einzige Bedingung: wer mittanzen wollte, sollte sich nackig machen. „Ich bin eine dicke Frau, das darf man sagen. Ich habe eineinhalb Tage gebraucht, bis ich mich getraut habe, mich komplett auszuziehen. Das war dann wie ein Befreiungsschlag.“
Tonia war das dritte Kind, unerwartet, nicht gewünscht. Die Eltern hatten sich im Neckartal eben ein Haus gekauft und fest eingeplant, beide arbeiten zu gehen. Doch wegen Tonia blieb die Mutter, Lehrerin eigentlich, wieder zu Hause. Sie ließ ihren Ärger, ihre Sorgen und Ängste an Tonia aus, auch mit Schlägen. Der Vater, Professor an einer pädagogischen Hochschule, war zu schwach, um sie zu verteidigen.
Wie ein Wirbelwind
Tonia zog sich nicht zurück, sondern rebellierte. Eine Pipi Langstrumpf war sie, sogar mit zwei Zöpfen, die wie ein Wirbelwind durchs Haus fegte und sich nichts gefallen ließ. Zweimal flog sie von der Schule, weil sie zu viele Widerworte gegeben hatte, und weil sie auf dem Schulhof rauchte. Liebe gab es von der größeren Schwester. Oft schliefen sie im selben Bett, Arm in Arm, erzählten sich alles.
Der Vater war kreativ, er baute alle Möbel selbst und brachte Tonia Handwerk und Ästhetik nahe. Die Mutter hat sie auch geprägt, auf ihre Weise, mit Fleiß und Durchhaltevermögen. Eigenschaften, die anfangs noch verborgen waren: Tonia trug Springerstiefel und Punkfrisur, Partys waren wichtiger als Prüfungen. „Ich habe die Schule an die Wand gefahren“.
Den Realabschluss holte sie an einer Abendschule, ging dann auf eine Modeschule und kam schließlich für das Modedesignstudium nach Berlin.
Der „Tresor“, der „Kitkat-Club“, Leder, Latex, Kostüme – Tonia stürzte sich hinein ins wilde Leben. Es gibt ein Foto, da hat sie sich für eine Party verkleidet, halb Mann, halb Frau, mit einem Korsett, einem halben Hemd, einem halben Schnurrbart und halbem BH. Das Motto war „Oxymoron“, und sie nannte sich Beate Uwe.
Wie sie zum Korsett gekommen ist? „Das Korsett ist zu mir gekommen“, sagte sie. Was ein bisschen zu bescheiden klingt. Auf der Modeschule fand sie die Schnürkonstruktionen spannend, und suchte jemanden, der die Herstellung beherrschte. Velda Lauder, die Meisterkorsettmacherin, arbeitete in London. Eigentlich, so hieß es, nahm sie keine Lehrlinge oder Praktikanten auf, doch Tonia flog 1999 rüber, nahm sich ein Taxi und klingelte bei der Werkstatt. Sie hatten keinen Plan B – nur die Begeisterung und ihre Mappe. Velda nahm sie auf und presste so viel Wissen in die deutsche Modestudentin, wie es in ein paar Monaten ging.
Die schrieb ihre Diplomarbeit zum Thema und machte 2002 ihre eigene Korsett-Werkstatt auf, „To.mTo“ an der Torstraße.
Ein Korsett näht man nicht einfach aus Stoff. Da wird mit Metall gearbeitet, mit Stanzen und Ösen, mit dicken, festen Materialien. Tonia stellte Schneiderinnen ein und brachte allen das Handwerk bei. Manche stiegen nach ein paar Tagen wieder aus, so anstrengend war die Arbeit. Wer blieb, wurde belohnt mit großer Abwechslung, denn jedes Stück ist ein Unikat, maßgeschneidert für die Kunden.
Wie eine zweite Haut
Mit denen war die Arbeit mitunter delikat. Tonia nahm Maß, legte die Musterstücke auf die nackte Haut, schnürte sie fest. Ein Korsett ist wie eine zweite Haut, es verändert die Gestalt, es macht weiblicher oder männlicher, es richtet auf.
Die Motive, ein Korsett zu tragen, sind so unterschiedlich, wie die Menschen, die in den Laden kommen. Da ist die Managerin, die vor Wirtschaftsvertretern sprechen muss und so aufrecht wie nur irgend möglich vorne stehen will. Da ist die Frau, die sich wieder sexy fühlen will, und der Mann, der seinen Bauch verschwinden lässt. Andere wollen auf Sexpartys Erfolge feiern, manche leiden unter Skoliose und tragen ein Korsett zur Stabilisierung, und wieder andere entdecken darin ihre bisher verborgenen Fantasien und Fetische.
Einmal hielt ein Polizeiwagen vor dem Laden, eine Polizistin betrat das Geschäft. Sie sei schon so oft hier vorbeigefahren, jetzt wolle sie endlich einmal so ein Ding anprobieren. Und egal, ob sie dann ein Korsett für mehrere tausend Euro bestellten oder nicht, Tonia war es wichtig, dass möglichst viele zumindest einmal eines anprobierten, um zu spüren, wie sich dieses Aufgerichtetsein und das Gehaltenwerden anfühlen.
Sie arbeitete wie verrückt, sie ging feiern wie verrückt, und auch mit der Liebe war es etwas verrückt. An den Männern, die sie liebten, hatte sie selten Interesse. Die Männer, die sie toll fand, waren selten toll für sie. So blieb sie lange allein, trotz vieler Affären und vieler treuer Freunde. Ja, es gab Momente, in denen die Königin klein und traurig war und einen großen König hätte brauchen können. Es gab Momente, in denen sie sich nach einer Familie sehnte, nach Kindern. Doch für sowas hatte sie ja gar nicht genug Zeit, sagte sie sich dann. Ihr Laden, ihre Kunden und die Schneiderinnen, das waren ihr Heim, ihre Familie.
Ein ausgebautes Bootshaus in Mecklenburg war ihr Refugium. Hierhin fuhr sie auch nach der letzten „Fusion“. Ihre Schwester hatte sie abgeholt, als es passierte, ein Aneurysma platzte, Tonia kollabierte in ihren Armen.
Die Trauerfeier fand in einem Club statt. In der Mitte stand die Urne, ihre Freunde tanzten um sie herum, befreundete DJ’s hatten extra Sets eingespielt. So hätte sie es sich wahrscheinlich gewünscht.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: