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Ursula Lehmann

© privat

Nachruf auf Ursula Lehmann: Warum gibt es keine Rampen?

Natürlich war sie penetrant, selbstverständlich nervte sie, aber wie sonst sollte man denn die Dinge ändern?

Stand:

Zu Uschis Beerdigung kamen sie angerollt, 15 ihrer engsten Freunde. Da saßen sie in ihre Rollstühlen vor der Trauerhalle, drinnen der Kirchendiener mit der Urne, dazwischen vier Treppenstufen und keine Rampe. Was also taten sie? Sie protestierten, so wie Uschi es ihnen vorgemacht hatte. Nicht nur meckern, sondern was dagegen tun. Den „sogenannten Nichtbehinderten“, wie Uschi sie nannte, deutlich machen, dass die Welt nicht nur für sie, sondern für alle da ist.

Der Kirchendiener brachte die Urne nach draußen, stellte sie auf die Stufen, und nun konnten die Freunde ihre Kränze ablegen, ihre Reden halten, sich verabschieden. Zum Grab schafften sie es nicht. Der Weg war zu matschig, Bretter gab es natürlich keine, sie blieben mit ihren Rollstühlen stecken.

Mitten im Krieg war Uschi zur Welt gekommen, hatte einen Bruder, eine Schwester. Der Vater starb, die Mutter, Trümmerfrau, musste die Kinder allein durchbringen. Schon früh litt Uschi unter Gelenkrheuma, bekam immer wieder Fieber, hatte Schmerzen, Bewegungen fielen ihr schwer. Die Mutter schaffte all das nicht, also übernahm die Großmutter. Sie liebte das Kind, doch als Uschi dünner und dünner wurde und auch sie nicht weiterwusste, übergaben sie das Mädchen der Obhut des Kinderheims „Quellenhof“. Es gehörte zum Evangelischen Johannesstift in Berlin-Spandau.

Essen gab es hier, freundliche Obhut, gar Liebe aber nicht. Uschi erinnerte sich später noch genau, wie Schwester Mathilde sie zwischen den Beinen einklemmte und ihr Löffel für Löffel heißen Brei in den Mund zwang. Wenn Uschi dann erbrach, musste sie auch das Erbrochene essen. Und dann die Strafen. Die Schläge waren wenigstens schnell vorbei – schlimmer war es, wenn Uschi in der Ecke stehen musste, Gesicht zur Wand, Stunde um Stunde, während die Schmerzen in ihren Gelenken unerträglich wurden. Schwester Mathilde zwang Uschi die vielen Treppen im Haus zu erklimmen, Stufe für Stufe, hoch und wieder runter. Eine Behinderung? Gegen die kämpft man an! Wenn die Oma zu Besuch kam, durfte Uschi sie durch eine Scheibe sehen, sprechen oder umarmen waren nicht erlaubt.

Uschi zerbrach nicht. Im Gegenteil: All diese Ungerechtigkeiten und Demütigungen weckten eine Kraft in ihr. „Sie hatte so einen Mut, mit ihr war einfach alles möglich“, sagt ihre beste Freundin.

Endlich hier raus!

Uschi hatte Glück, aber auch keine andere Wahl, plötzlich sollte sie ihre Sache packen, es gäbe da einen Ausbildungsplatz als Stenokontoristin in Nordrhein-Westfalen für sie. Endlich hier raus!

Zurück in Berlin fand Uschi, die inzwischen im Rollstuhl saß und nur noch ein paar Schritte selber gehen konnte, eine Arbeit in der Verwaltung des Seniorenheimes Schönow am Teltower Damm. Erst hatte sie hier ein Zimmer, in dem sie wohnen konnte. Dann fand sie eine Freundin, mit der sie zusammenzog, und die ihr bei den schwierigen Dingen des Alltags half. Uschi konnte Leute ansprechen, sie von etwas überzeugen, sich mit ihnen anfreunden. Später dann, als sie allein wohnte, organisierte sie sich Assistenten, die sie aus eigener Tasche bezahlte. Jahr für Jahr konnte ihr Körper weniger, aber unterkriegen ließ sich „die rote Uschi“ nicht. Rot, weil sie Haarsträhnen Rot oder Lila färbte.

Warum, bitteschön, gibt es nicht genügend Plätze im ICC für Rollstuhlfahrer? Warum, bitteschön, kommen Rollstuhlfahrer nicht ins Panorama-Cafe vom Fernsehturm? Warum sind die Bordsteine nicht abgesenkt? Warum gab es keine Rampen, mit denen man in die S-Bahnen reinkam?

Da muss man doch etwas tun. Zum Beispiel die Eingänge blockieren. Oder eine Pressekonferenz. Oder ein Besuch beim zuständigen Politiker. Dem Regierenden Bürgermeister stellte sie sich mit ihrem Rollstuhl in den Weg, und schon sprach er mit ihr. „Wir dürfen uns nichts gefallen lassen“, schärfte sie den anderen ein. Natürlich war sie penetrant, selbstverständlich nervte sie, aber wie sonst sollte man denn die Dinge ändern?

Mit Uschi hatte man das Gefühl, dass alles möglich war. Hielten sie mit dem Auto irgendwo an, warteten sie einfach auf den nächsten jungen Mann, der Uschi in ihren Faltrollstuhl setzte. Wenn sie ihre Städtereisen mit der Bahn machten, plante Uschi alles durch. Jede Verbindung, jeden Fahrstuhl, jede Rampe, meldete alles vorher bei der Bahn an, die extra für sie einen alten Sonderwagen der Reichsbahn mit großer Rollstuhltoilette an den Regionalzug koppelte. Das war ein Anblick, wenn sie dann mit ihrer Rollstuhl-Gang angedüst kam.

Richtig wild wurde es, als der Berliner Senat Ende 1987 beschloss, die freien Fahrten des Telebus‘ um die Hälfte zu kürzen. Für Rollstuhlfahrer war es zu dieser Zeit nahezu unmöglich normale Busse oder die U-Bahn zu benutzen. Es blieb nur der Telebus mit der Rampe. Sie verabredeten sich zu ihrer ersten Sponti-Aktion, 20 bis 30 Rollstuhlfahrer mitten auf dem Ku’damm. Wenn sie nicht fahren können, sollte auch kein anderer fahren. Als die Polizei nach einem Verantwortlichen fragte, schickte Uschi sie zu demjenigen unter ihnen, der nicht sprechen konnte.

Monat für Monat kamen sie wieder. Dann kauften sie eine Holzrampe und übergaben sie feierlich der S-Bahn. Doch die Rampe war nicht TÜV-geprüft, das Parlament beschäftigte sich, Diepgen war sauer. Schließlich wurden die sogenannten „Schmetterlingsraupen“ angeschafft, die heute noch benutzt werden.

Über Uschi wurde berichtet. Wenn die Waldbühne sie nicht reinlassen wollte. Wenn sie an den Anti-Terror-Pollern vom Breitscheidplatz nicht vorbeikam. Wenn andere ehemalige Heimkinder entschädigt wurden, die behinderten aber nicht. Uschi brachte das alles in die Öffentlichkeit.

Als sie Rentnerin war, reichte ihr Geld für die Helfer kaum mehr. „Es war ein grausamer Verkehrstag. Wenn ich einen hoffnungsvollen Moment vermutete, folgte dem sofort die Enttäuschung. Mein Handy zu nutzen, wird auch behinderungsbedingt immer schwieriger. Heute musste mich die Feuerwehr aus dem Bett holen, weil auch die Pflegeassistentin nach zwei Stunden nicht erschien. Meine Verzweiflung steigert sich.“ Das war die letzte Nachricht, die Uschi einer Freundin schickte. Danach verliert sich ihre Spur. Sie wird wohl wieder die Feuerwehr gerufen haben, die sie in ein Krankenhaus gebracht haben wird, wo sie zwei Wochen später starb. Woran? Unbekannt. Die Freunde erhalten keine Auskunft.

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