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Nachruf auf Uwe Splett: „Ich habe einen Webfehler“
Er begab sich auf lauter kleine Fluchten, die sein Leben temporeicher machten
Stand:
„Wo ist denn deine Mutter?“, fragte ein Passant den kleinen Uwe. Der zeigte nach oben: „Die ist im Himmel“. Die 22-Jährige Gesche hatte sich am S-Bahnhof Jungfernheide vor den Zug geworfen, da war Uwe zwei. „Ein Eisenbahnunglück“, ließ man ihn glauben. Nun war das Kind Waise, denn ein Vater war nicht bekannt.
Ein neues Zuhause fand Uwe bei Annemargot: Die Jugendleiterin adoptierte ihn und nahm ihn mit in ihr „Kinderheim Berneck“ im Schwarzwald. Ihr Tun beschrieb Uwe später so: „Sie gestaltete ein großartiges Zuhause, eine einmalige Erlebniswelt unter ehrwürdigen Tannen und auf hochgewachsenen Wiesen, ein wunderbares Zuhause für obdachlose Seelen. Dieses Zuhause war stets angefüllt mit Poesie und Musik. Nachdem wir uns gewaschen hatten, setzte sich Annemargot jeden Abend ans Klavier. Aus dem Liederbuch Bruder Singer sangen wir unverfälschte Volkslieder, milde Texte von Matthias Claudius und viele andere. Wer englische Songs hörte, zum Beispiel von den Beatles, musste zur Strafe ins Bett“. Es war eben auch ein Kinderheim der fünfziger Jahre.
Doch die musikalische Erziehung trug Früchte. Als Erwachsener sang Uwe, nach einer klassischen Gesangsausbildung, im Erweiterungschor der Deutschen Oper. Immerzu hatte er eine Opernarie oder ein Kunstlied auf den Lippen. Feinsäuberlich katalogisierte er seine unzähligen Klassikaufnahmen. Und er nahm seine kleinen Töchter Danae und Candida mit in die Oper. Natürlich nicht, ohne dass er sie vorab das Libretto lesen ließ. Was er machte, machte er intensiv.
Gegen die Ausbeutung!
Intensiv betätigte er sich auch als Revolutionär, denn es war die Zeit der Studentenbewegung. Er las selbstverständlich „Das Kapital“ von Marx, aber auch Engels, Lenin, Trotzki oder Mao Tse-Tung, den er „Genosse Mao“ nannte. Der KPD warf er in einem 16-seitigen Pamphlet vor, keine Arbeiterorganisation zu sein. Und auch als Mitglied der „Proletarischen Linken/Parteiinitiative“, kurz PL/PI, diskutierte er mit den Genossen darüber, wie man die Arbeiterklasse gewinnen könnte, gegen die Ausbeutung aufzubegehren. Um das praktisch zu erkunden, hängte Uwe seinen Job als Erzieher an den Nagel und fing bei Siemens als Imprägnierer an. Doch die Arbeiter interessierten sich wenig für die Revolution, und die Arbeit war anstrengend. So war auch dieser Job schon bald Geschichte.
Das brachte seine kleine Familie in Schwierigkeiten. Die hatte er gegründet, so früh es nur ging, weil er leibliche Verwandte so schmerzlich vermisste. Mit Einwilligung seiner Adoptivmutter heiratete er noch minderjährig Irmela und wurde mit 19 zum ersten Mal Vater. Doch bei den Revolutionären hieß es: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. Da war die Sabotage der Kleinfamilie Programm. Die Ehe hielt nur knapp drei Jahre.
Als Vater aber blieb er aktiv, die Töchter lebten zur Hälfte bei ihm. Sie waren sein ganzer Stolz, denn in ihnen sah er erfüllt, was er in seinen Augen nicht geschafft hatte: Sie machten Abitur, studierten, machten passable Karrieren.
Ein Leben lang schämte er sich, dass er nur eine Erzieher-Ausbildung hatte. Er war Legastheniker, wie es damals hieß, und machte kein Abitur. Immerhin legte er später in Bremen die Begabtenprüfung ab, eine Eintrittskarte in die Universität. Trotzdem studierte er nur kurz Psychologie. Ihm fehlte die Ausdauer. Und vielleicht war auch die Politik wichtiger, so kurz vor der Revolution.
Völlige Verausgabung
Eine bemerkenswerte Karriere machte er dennoch, erst als Heimerzieher, dann als Leiter eines Kinderheims. Später wurde er Dozent in der Erwachsenenbildung, und übernahm bald die Leitung einer Schule. Um zu bestehen, verausgabte er sich völlig. Nächtelang schaffte er sich den Lehrstoff immer neuer Fächer drauf. Oft schlief er nur wenige Stunden, bevor er sich erneut bis zum frühen Morgen an den Schreibtisch setzte. Das dünne Eis, auf dem er sich anfangs beim Unterrichten bewegte, kaschierte er mit etwas Hochstapelei und einer natürlichen Autorität, mit der er schon die Heimkinder in Schach gehalten hatte. Sein Erfolg erfüllte ihn mit Stolz, mit dem er nicht hinter dem Berg hielt. Dass seine Gesundheit unter den Strapazen litt, ignorierte er.
Und Arbeit war nicht alles, das ihn in Atem hielt. Da war noch das quälende Gefühl, entwurzelt zu sein. Er beauftragte einen Detektiv, mehr über seine Herkunft in Erfahrung zu bringen. „Uwe wuchs in einem Heim für Kleinkinder auf. Gesche K. durfte ihren Sohn nur am Wochenende besuchen“, schreibt der Detektiv. Denn „Gesche K. wurde straffällig (mehrfacher Diebstahl etc.) und musste für 1 ½ Jahre ins Gefängnis bzw. Jugenderziehungsheim“. Wer der Vater war, blieb ein Geheimnis. Immerhin aber lernte Uwe Benno kennen, den damaligen Ehemann seiner Mutter. Das Foto von Gesche, das der ihm mitbrachte, hing fortan neben seinem Bett.
„Ich habe einen Webfehler“, sagte er einmal, um zu erklären, dass ihn nur die Nähe einer Frau sich vollständig fühlen ließ, dass er Freundschaften kaum pflegte. So floss viel Energie in seine festen Liebesbeziehungen, die er mit Romantik würzte: langstieligen roten Rosen, Liebesbriefen und Gedichten. Für Dramatik sorgte er auch: Mehrmals drohte er sich umzubringen, wenn eine Beziehung in die Brüche ging. Und dann waren da noch seine Geliebten, seine „kleinen Fluchten“, die das Tempo seines Lebens noch weiter erhöhten.
Es war ein Schlaganfall, der die rasante Fahrt stoppte. Er war 53, halbseitig gelähmt, sein Gehirn war nicht mehr zu den gewohnten Höchstleistungen fähig. Was blieb, war sein unbedingter Wille, selbstbestimmt zu leben, trotz der Pflegebedürftigkeit. So setzte er alle Hebel in Bewegung für einen Opernbesuch, für einen Ausflug ans Grab von Dietrich Fischer-Dieskau, für einen Teller kroatisches Essen, für einen Besuch bei den Töchtern. Auch als ihm die Schmerzen jedes Erlebnis verleideten, bestand er darauf auszugehen. Immerhin waren die Erinnerungen an die Ausflüge frei von Schmerz.
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