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Wilfried d’Heureuse

© privat

Nachruf auf Wilfried d’Heureuse: Warum nicht ein wenig ins Blaue hinein

Besonders gern betreute der Steuerberater den Wollladen. Denn er strickte und er nähte auch.

Stand:

„Würden Sie mir bitte den Zucker reichen?“, fragte noch Wilfrieds Vater seinen Vater und nahm mit höflichem Dank die silberne Dose entgegen. „Hast du endlich die Pferde gesattelt?“, mahnte er weniger höflich den Stallknecht, wenn er ein wenig in die an den Gutshof grenzenden Wälder zu reiten gedachte.

Doch dann wischte das Ende des Krieges die ganze Junkerattitüde mit einem rohen Handstreich fort. Weg hier, nach Bielefeld. Die Zuckerdose stand jetzt in der Anrichte anderer Leute.

Die Weite war auf ein paar Quadratmeter Wohnfläche zusammengeschnurrt, zwei Erwachsene, vier Kinder, wenig Geld, der Vater nicht mehr auf Pferderücken, sondern als Chauffeur hinterm Lenkrad in den weich gepolsterten Wagen derer, die es besser getroffen hatten.

Wilfried, sein Sohn, absolvierte die Lehre in einer Weberei. Bielefeld war seit Jahrhunderten ein bedeutender Webereistandort. Er besuchte im Anschluss an die Lehre eine Handelsschule und wurde graduierter Betriebswirt. Dann rief die Bundeswehr und er machte es wie zig andere junge Männer, die sich nicht rufen lassen wollten, und ging nach West-Berlin. Es war die Zeit der politischen Revolte, die auch ihn ergriff. Den Betriebswirtschaftspfad verlassen, etwas Neues probieren. Er studierte ein paar Semester an der Pädagogischen Hochschule, bis er bemerkte, dass er hier nicht das lernen konnte, was er seine zukünftigen Schüler gern lehren würde. Viel zu reglementiert die Unterrichtspläne, keine modernen Ansätze, immer nur frontal vor der Klasse stehen und die festgelegten, unverrückbaren Schemata runterspulen. Beamter auf Lebenszeit? Nein, lieber nicht.

Und jetzt? Erst mal nachdenken. Er war ein bisschen orientierungslos.

„von der Glücklichen“

In seiner Wohngemeinschaft lebte eine Frau, die ursprünglich aus Freiburg kam und die ihm eines Tages vorschlug, mit ihm runter in den Südwesten des Landes zu ziehen. Warum nicht, warum nicht ein wenig ins Blaue hinein. Er fuhr los. Jobbte als Lagerarbeiter, setzte sich zu den Studenten in die Kneipen.

Johanna, eine medizinisch-technische Assistentin in der Ausbildung, saß ebenso dort. Sie hatte ihn noch nicht gesehen, nur von ihm gehört, ein Typ aus Berlin mit diesem hübschen hugenottischen Nachnamen, der weiblichen Form von heureux, glücklich, und zusätzlich einem von davor, zusammengenommen etwa: „von der Glücklichen“; der, so hieß es, ausgezeichnet kochen und bemerkenswert stricken konnte, vielfarbige Mohairpullover, fast schon Kunstwerke. Dann aber fiel sie ihm zuerst auf. Noch bevor sie ihn unter den anderen entdeckt hatte, seine halblangen Haare, die graublauen Augen im fein geschnittenen Gesicht, sein schmiegsamer Gang, seine ungeheure Freundlichkeit.

Sie verliebten sich. Doch es war klar, dass Wilfried nach ein paar Freiburgmonaten zurück nach Berlin gehen würde. Sie versprachen, einander Briefe zu schreiben, sich zu besuchen, und dann käme Johanna, nach dem Ende ihrer Ausbildung, zu ihm nach Berlin. Sie kam.

Wilfried seinerseits besann sich in Berlin wieder auf das, was er in jüngeren Jahren gelernt hatte. Er begann, in einem Steuerberaterbüro zu arbeiten. Sein Chef dort unterstützte ihn, die Steuerberaterprüfung – eine außerordentlich schwierige Prüfung, durch die Unmengen von Kandidaten fallen – abzulegen, um ein eigenes Büro eröffnen zu können. Wilfried besuchte Abendkurse und bereitete sich auf die Examina vor. Es klappte, nur eine schriftliche Prüfung musste er wiederholen.

Nun, mit eigener Kanzlei, wandte er sich den Normalverdienern zu, den kleinen Unternehmen, chinesischen und italienischen Restaurants. Nicht den Großverdienern, die trotz ihrer Geldberge immer noch eine Lücke zum Steuersparen suchten. Wilfried mochte den Umgang mit den Klienten. Was ihn nervte, war die Bürokratie, die unendlichen Auflagen für jene, bei denen es auf jeden Euro ankommt. Die dicken Fische, so seine Beobachtung, kamen immer recht günstig davon.

Netzwerkerei interessierte ihn wenig. Stammtische mit Kollegen, ach nein, muss nicht sein. Und erst diese Steuerberaterkammertreffen, allein dieses monströse Wort. Die Mandanten waren wichtig. Er besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis, behielt Zahlen und Daten über Jahre hinaus im Kopf, musste nie lange in den Akten kramen, um zu finden, was er suchte.

Ein Unternehmen lag ihm besonders am Herzen, ein kleiner Wollladen in der Nürnberger Straße, für den er die Buchhaltung machte. Oft war er dort, betastete und kaufte die schönsten Wollknäuel. Neben dem Stricken nähte er auch, nahm Unterricht im Schnittmusterzeichnen.

Er reiste mit Johanna nach Frankreich, lief mit ihr durch die Kirchen und Klöster. Er hörte Schubert und Blues. Jimi Hendrix war für ihn der Größte von allen. Er hat ihn tatsächlich noch live gesehen, nicht lange vor dessen Tod. Will the wind ever remember / the names it has blown in the past?

Die Krebsdiagnose kam im Herbst 2019. Von Anfang an war klar, dass da nichts zu machen ist. Trotzdem unternahmen Johanna und er kleinere Reisen, Wandertouren, Fahrradtouren. Man sah ihm die Krankheit nicht an, seine Haut blieb schön und glatt und sonnengebräunt. Letztes Jahr fuhren sie mit den Rädern an den Neusiedlersee, zum ersten Mal benutzte er eins mit Elektromotor. Kein Vergleich zu früher, als er durch Wales und Irland gefahren ist, über den Brenner und den Simplonpass. Zum ersten Mal auch, dass er einen Helm trug, sonst wäre es womöglich schlimmer ausgegangen. Er fiel, am Ende der Rundfahrt um den See, lag bewusstlos auf dem Weg, ein Hubschrauber brachte ihn in ein Krankenhaus, eine Szene wie aus einer Bergserie. Er stabilisierte sich, es ging ihm wieder ganz gut. Noch eine Weile.

Wilfried wollte in die Luft, nicht unter die Erde. Also fuhr Johanna los, in die Schweiz, unter ihr der Thunersee, vor ihr der Eiger, der Mönch, die Jungfrau. Der Wind trug die Asche davon.

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