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Au revoir: Das "Bichou" in der Schönstedtstraße wird geschlossen.

© Carim Soliman

Abschied vom Berliner „Café Bichou“: Neukölln verliert seine Lieblingstante

Der Berliner Donaukiez trauert: Das „Café Bichou“ war etwas ganz Besonderes, jetzt macht es zu. Unser Autor schreibt eine Liebeserklärung.

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Viel menschliche Wärme und die weltbeste Zitronentarte, das ist die Essenz des Café Bichou. Hinter seiner schlichten weißen Fassade versteckt es sich in der Schönstedtstraße gleich hinter dem Rathaus Neukölln. Marion Coulondre und Thomas Giese bieten dort seit 2016 zum Kaffee vor allem kleine französische Leckereien an: Brioche, Quiche, Tarte. Viel länger ist das vollständige Menü nicht, denn um Masse ging es den beiden nie.

An diesem Donnerstag schließen sie das Café für immer, und der ganze Kiez trauert. „Wir planen als Erinnerung und Abschiedsgeschenk für Marion und Thomas ein Bichou-Gästebuch”, heißt es in einer Chatnachricht, die Anfang März im Neuköllner Donaukiez von einer Nummer zur nächsten weitergeleitet wurde. „Wir freuen uns, wenn du mitmachst!” Um Briefe wurde gebeten, Fotos oder Zeichnungen, einzuwerfen in den Briefkasten der Verfasserinnen.

Doch auch die schönsten Erinnerungen werden das Café nicht zurückbringen: Alles, was in den Vitrinen des Bichou stand, ist immer mit Hingabe und hohem Anspruch an Zubereitung, Zutaten und Zulieferung gefertigt worden.

Die Qualität musste stimmen, Klima und Umwelt durften so wenig wie möglich in Mitleidenschaft geraten. Daher landeten nur saisonale Produkte aus der direkten Umgebung möglichst vollständig in Thomas Gieses Töpfen und Ofen. Im Bichou stand während der Öffnungszeiten hauptsächlich er in der Küche.

Dort passte er sich den verfügbaren Zutaten an, nicht andersherum. Zur kalten Jahreszeit konnten sich Gäste mit den fein gewürzten, karamellisierten Apfelstücken einer „Tarte Tatin“ wärmen. Sobald es draußen milder wurde, wich diese einer erfrischend süßen „Tarte au Citron“ mit schaumiger Meringue. Andere Gerichte variieren sogar wöchentlich.

Verboten gut, deshalb hier nur ausschnittsweise zu sehen: die Zitronentarte.
Verboten gut, deshalb hier nur ausschnittsweise zu sehen: die Zitronentarte.

© Carim Soliman

Reste bei der Zubereitung wurden nicht einfach weggeworfen, sondern nach Möglichkeit anderweitig verwendet: Die Apfelschalen eingekocht, übrig gebliebene Gemüsereste eingelegt. Das Café Bichou war weniger professionelle Restaurantküche als vielmehr die Küche bei den Großeltern.

Marion begrüßte die Gäste wie lang vermisste Familienmitglieder

Es duftete nach frischem Gebäck, in den Regalen standen zahllose Einmachgläser in allen Farben und Formen, auf den Arbeitsflächen schweres Arbeitsgerät aus längst vergangenen Tagen. Damit machte es seinem Namen alle Ehre, denn es wurde nach Marion Coulondres Tante „Bichou“ in Frankreich benannt.

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Marion hatte keinen geringeren Anteil an der besonderen Atmosphäre des Cafés. Meistens stand sie hinterm Tresen wenn es seine Türen öffnet, und empfing wiederkehrende Gäste wie lang vermisste Nichten und Neffen: Wie war der Urlaub in Sizilien? Wie geht es der Schwester mit dem Studium in Wien? Liebe Grüße übrigens, von dieser einen Freundin da, sie war neulich auch hier, man hat sich in letzter Zeit ja leider nicht gesehen.

Man konnte sich im Bichou gut verquatschen, obwohl das Gespräch mit Marion oft unterbrochen wurde. Ständig grüßten Nachbar:innen und Stammkund:innen im Vorbeigehen. Zur Stoßzeit herzukommen war, wie eine Familienfeier zu besuchen. Nur dass der ganze Kiez zur Familie gehörte.

Der Donaukiez wird seine Lieblingstante vermissen

Hier hatte jeder einen Flecken Zuhause. Hier gingen alle bekannten Gesichter ein und aus oder zumindest vorbei. Hier hörte man alle Sprachen Neuköllns, von Deutsch bis Arabisch, Türkisch, Albanisch, Englisch, Spanisch und natürlich Französisch. Hier lagen die Werbezettel für die Fahrschule um die Ecke neben den Promo-Stickern des hippen Streetwear-Labels der Studis aus dem dritten Stock und dem Pamphlet zur Demo am nächsten Wochenende.

Diese Offenheit und Herzlichkeit haben das Bichou fünf Jahre lang zum festen Bestandteil des Kiezes gemacht. Das ist der Grund, warum der Kiez sich vernetzt, um sich schweren Herzens von Marion und Thomas zu verabschieden.

Immerhin geben Marion und Thomas das Café aus freien Stücken auf, um sich einen neuen Traum zu erfüllen. Das erleichtert den Abschied ein wenig. Aber der Donaukiez wird seine Lieblingstante vermissen. Ihre unnachahmliche Zitronentarte natürlich. Aber vor allem, in ihrer Küche zu sitzen und sich geborgen zu fühlen.

Carim Soliman

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