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Ingo Bauer ist in der Rummelsburger Bucht zuhause.

© Sven Darmer

Obdachlosigkeit in Berlin: „Wir wollen nicht in die Unterkünfte“

Ingo Bauer ist in der Rummelsburger Bucht zuhause. Ein Gespräch über falsche Erwartungen, Fehler im Leben, das solidarische Grundeinkommen und die Corona-Zeit.

Herr Bauer, Sie haben sich das Ostkreuz als Treffpunkt ausgesucht. Warum?

Na, weil ich da drüben wohne, in der Rummelsburger Bucht. Die Rummelsburger Bucht ist mein Zuhause, meine Familie.

Wie erleben Sie dort die Corona-Zeit?

Es kümmert sich nicht wirklich jemand darum, ob wir Obdachlose in der Rummelsburg Bucht – oder wo auch immer – sind. Es interessiert niemanden, ob wir Corona verbreiten. Wir sind völlig außer Acht gelassen in dieser Beziehung, und das finde ich verantwortungslos von den Politikern. Wir sind die Verbreiter. Weil wir in der ganzen Stadt herumkommen.

Gibt’s in der Bucht sanitäre Einrichtungen?

Nein, sie haben uns die Toiletten weggenommen und uns einen Käfig gebaut. Es gibt bloß noch einen offiziellen Ausgang. Humanitäre Hilfe beginnt im eigenen Haus und nicht außerhalb. Und das passiert hier in Berlin nicht mehr.

Laut Senatsverwaltung stehen berlinweit 1044 Schlafplätze in Einrichtungen zur Verfügung. Das hilft nicht?

Wir wollen nicht in die Unterkünfte. Wir haben dieses Thema schon mit verschiedenen Leuten diskutiert. Wir wollen nicht beschränkt werden in irgendwelchen Sachen, sondern leben, wie wir leben. Was will ich in einem Wohnheim, wo abends die Security kommt und mir sagt, was ich alles abgeben muss?

Was würde stattdessen helfen?

Einfach ein Platz, wo wir bleiben können und keine Angst haben, gehen zu müssen. Das ist unser größter Wunsch. Hier in der Rummelsburger Bucht ist die Hälfte der Menschen schon vertrieben worden. Das kann doch nicht sein. Berlin verkauft sich gerade aus. Überall kommen Leute und sagen: Ey, du musst hier verschwinden, denn das gehört jetzt mir.

[Das Interview ist ein Auszug aus dem "Tagesspiegel-Checkpoint"-Podcast "Eine Runde Berlin". Die ganze Folge finden Sie auf Spotify, Apple Podcasts oder Tagesspiegel.de]

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Im Januar wurden Berlins Obdachlose im Rahmen der Nacht der Solidarität gezählt. Man kam auf 2000. Halten Sie diese Zahl für realistisch?

Die Aktion war völlig blödsinnig, weil die meisten Leute zu diesem Zeitpunkt geschlafen haben und eine Regelung getroffen wurde, niemanden zu wecken. Wir gehen von 7000 bis 9000 Obdachlosen aus. Dazu kommen nochmal ungefähr 30.000 Wohnungslose. Das hört sich bei einer Zahl von 3,8 Millionen Berlinern erst mal nicht viel an. Aber es ist irre, was hier passiert.

Worin, glauben Sie, liegen die Gründe für die Obdachlosigkeit?

Es gibt drei Kategorien von Menschen, die obdachlos sind. Die einen haben psychische Probleme, die anderen haben Suchtprobleme – so wie ich zum Beispiel – und manche sind einfach ausgestiegen aus der bürgerlichen Ordnung.

Wie sind Sie auf der Straße gelandet?

Ich bin in der früheren DDR groß geworden, als anerkannter politischer Häftling in die BRD gekommen und dann relativ schnell kriminell geworden. Ich war völlig unerfahren mit 22 Jahren, bin einbrechen gegangen und habe gestohlen. Meine Kriminalität hat mich viele Jahre ins Gefängnis gebracht. Als ich entlassen wurde, hatte ich die Auflage, in eine Therapie zu gehen, weil ich dreimal mit Alkohol auffällig geworden war.

Ich habe in Bayern angefangen und dann angeleiert, dass ich nach Berlin komme. Über einen Verein habe ich eine Wohnung in Kreuzberg gefunden und vier Jahre da gelebt, bis mein Konsum – Alkohol und Drogen – wieder überhand genommen hat. Ich habe alles schleifen lassen und keine Miete mehr bezahlt. 2008 bin ich auf die Straße gegangen. Ich gebe niemandem die Schuld. Ich habe immer mit meinem eigenen Handeln dazu beigetragen, dass es so gekommen ist.

Haben Sie die Hoffnung, da nochmal rauszukommen? Seit diesem Jahr haben Sie im Rahmen des Solidarischen Grundeinkommens zumindest wieder einen festen Job.

Ich könnte heute oder morgen rauskommen. Aber ich will es nicht mehr. Ich habe ein totales Alkoholproblem. Das ist mir klar. Aber ich habe drei Therapien in meinem Leben absolviert und keine hat wirklich geholfen. Jetzt lasse ich es laufen. Seit Januar arbeite ich fest bei einem Verein, Karuna.

Der akzeptiert mich, wie ich bin. Erst war ich Obdachlosenlotse, jetzt bin ich Pförtner im bUm, einem Kiosk für Obdachlose. Ich bin jeden Tag von 9 bis 17 Uhr da und ich komme jeden Tag pünktlich. Egal, ob ich 1,5, 1,7 oder 2 Promille im Kessel habe. Ich mache nicht krank. Ich mache nicht blau. Ich gehe hin. Das ist mein Job. Ich bin eine Verpflichtung eingegangen.

Tut es Ihnen gut, diesen geregelten Alltag zu haben?

Es macht auf jeden Fall etwas aus. Aber ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich mich immer schwerer tue, pünktlich aufzustehen, weil ich lieber den Konsum habe. Das Solidarische Grundeinkommen tut uns nicht allen gut. Wir sind zum Teil süchtige Menschen, die von der Straße in eine Maßnahme geholt wurden, die Berlin hervorgebracht hat. Der Gedanke ist grundsätzlich total cool und gut, aber nicht zu Ende gedacht. Ich bin, seitdem ich dieses viele Geld habe, immer noch abhängig vom Alkohol.

Das ist keine Kritik. Das würde ich als missverstanden betrachten. Es geht einfach darum, dass wir zum Teil erstmal selbst aufgefangen werden müssen, bevor wir anderen helfen können. Ich soll Leuten heute empfehlen, dass sie aufhören zu trinken oder in eine Therapie gehen, und bin selber drauf. Das ist doch Blödsinn.

S-Bahn-Station Ostkreuz - die Startstation für das Interview.
S-Bahn-Station Ostkreuz - die Startstation für das Interview.

© Sven Darmer

Was machen Sie mit dem Geld, das sie verdienen?

Das meiste verschenke ich auf der Straße. Wir grillen mal hier und da oder gehen was essen. Außerdem Drogen und Alkohol. Was Sinnvolles habe ich im Grunde genommen mit diesem Geld noch nicht angefangen.

Gibt’s denn etwas, auf das Sie gerne sparen würden?

Ich möchte nach Peru und 1000 Kilometer auf den Machu Picchu laufen. Ich habe das Gefühl, dass das meine Erfüllung ist.

Sie haben seit kurzem auch ein Tiny Haus am Berliner Ensemble, in dem Sie unterkommen können. Warum ziehen Sie da nicht komplett ein?

Das ist eine Holzkiste mit Bett. Es hat einen gewissen Luxus gegenüber einem Zelt. Wenn ich abschalten will, bleibe ich dort. Letztendlich ist es auf Dauer aber kein Lebensraum für einen Menschen. Und in der Bucht habe ich meine Gemeinschaft.

Werden Sie dort auch Weihnachten feiern?

Durch meine lange Haft – insgesamt 22 Jahre – hat das keine Bedeutung mehr für mich. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind gar nicht erwarten konnte, bis Weihnachten endlich kommt. Das hat sich verloren. Es kann sein, dass wir zusammensitzen. Aber wir machen nichts Besonderes. Für uns ist das Alltag.

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