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Olafs letzte Tanne: Innenansichten eines Kanzlers vor dem Fest
Die Tanne schwankt, Männer rufen, ein Kran brummt crescendo. Anstrengend, denkt Scholz, aber das hier ist Berlin, nicht mal das kriegen sie ohne Getue hin. Was die Tanne dem Kanzler bedeuten könnte.

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Wieder ein Tag im Kanzleramt, dort, wo in Deutschland oben ist. Olaf Scholz sieht sich unvermutet von Selbstzweifeln befallen. Hat er gerade Kurs auf neue Machtoptionen genommen – oder ist er demnächst auch nur noch ein Kandidat für die Menschen im Lande? Er spielt die Lage im Kopf durch, wägt ab, denkt, fokussiert. Wäre nicht im Grunde Altkanzler sogar der wirkliche Traumjob für einen wie ihn? Nur noch diskret ein paar Strippen ziehen, einmal im Jahr ein Vortrag bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, ein Benz mit Chauffeur und einen Ministerialdirektor als Büroleiter zum Rumkommandieren?
Da fällt sein Blick aus dem Fenster. Männer im Blaumann mit viel schwerem Gerät richten im Hof des Amtes eine mächtige Tanne auf, die Kanzlertanne. Meine vierte, schießt es ihm durch den Kopf – aber wird es auch meine letzte sein?
Scholz fühlt sich ganz klein beim Blick nach drunten, verkörpert so ein Baum nicht die mächtige Botschaft des weihnachtlichen Friedens, ist seine Größe nicht auch ein Mahnruf an die menschliche Hybris? Soll der Putin mal drüber nachdenken, der Dussel! Trump, nein, der ist ja selbst so eine Art Weihnachtsmann, der hat garantiert zehn höhere da auf seinem Golfplatz. Oder Palmen?
Scholz lässt das Bild auf sich wirken. Der Baum ist groß. Woher gleich? „Fürstenwalde“, sagt ihm sein Vorzimmer, das kann er einordnen, das ist da drunten beim Woidke, erst nach Potsdam, dann links Richtung Polen. Der Dietmar, denkt er, hat der sich nicht gerade erst von dieser Zarenknecht hinter die Fichte führen lassen? Gut, dass das hier eine Tanne ist.
Wie viele solche Tannen hat eigentlich die Merkel hier miterlebt? Denkt er weiter. Ob gut drei Jahre Kanzlerschaft genug sind, um später auch so einen Wälzer rauszuhauen und von allen nochmal wahrgenommen zu werden, also wirklich als Mensch mit all seinen Höhen und Gipfeln, nicht als schlumpfiger Amtsverwalter?
Die Tanne schwankt, Männer rufen, ein Kran brummt crescendo. Anstrengend, denkt Scholz, aber das hier ist ja Berlin, da ist alles anstrengend, verdammt noch mal. Nicht mal das kriegen sie ohne Getue hin. Solche Leute hätte er rund gemacht, damals in Hamburg.
Andererseits: Hat irgendjemand in dieser chaotischen Stadt einen auch nur annähernd so schönen Baum? Der Lindner zum Beispiel, der muss die Krücken nehmen, die in seinem Garten stehen, das hat er sich verdient.
Berlin, überhaupt. Werden die das überhaupt auf die Reihe kriegen mit der Wahl? Wenn das wieder scheitert, wenn wieder das Papier fehlt und abends noch Stimmen abgegeben werden – wie erfahre ich dann genau, wie hoch ich gesiegt habe? Ich könnte mich um halb sieben zum Sieger erklären, dann soll der Merz erstmal das Gegenteil beweisen, nicht wahr?
Die Sprechanlage quäkt. „Chef!“ ruft es, „hier sind die ersten Fotos für die Wahlplakate!“ Scholz seufzt und wirft noch einen Blick auf die Tanne, wo erste Lichter aufflammen: Ex-Kanzler, das wär’s.
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